0045 - Ich entkam der Teufelshöhle
Met gewöhnt war.
Hier hatten die berühmtesten Stimmen der Welt gesungen, aber was an diesem Abend da oben als Tenor stand, das war nach meinem Laienverstand bestenfalls zweite Garnitur.
Das Publikum schien durchaus mit meinem Urteil einig zu sein, denn schon nach den ersten Takten, die der Mann gesungen hatte, ging ein hörbares Raunen durch den Saal. Wenn ich gewusst hätte, was hier wirklich gespielt wurde, hätte ich vielleicht ein bisschen genauer auf das geachtet, was die Leute hinter uns flüsterten. Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass ausgerechnet ein Tenor uns einen mehr als handfesten Kriminalfall liefern sollte. Und weil ich immer noch einen stillen Verdacht auf Phil hatte, dass er sich vielleicht in irgendeine Sängerin verliebt hätte, achtete ich ohnehin mehr auf die weiblichen Darsteller als auf die männlichen.
Nun, mir fiel außer dem Tenor den ganzen Abend nichts weiter auf. Und ich muss gestehen, nach einiger Zeit war ich auch so gefesselt von der sonst hervorragenden Aufführung, dass ich alles andere vergaß.
***
Am anderen Morgen klangen mir immer noch einige Melodien der Oper in den Ohren. Ich summte sie, während ich mit dem Jaguar zum Distriktgebäude fuhr.
Phil sah kurz nach neun in mein Office.
»Na, wie hat dir’s gestern Abend gefallen?«, erkundigte er sich.
Ich zuckte die Achseln.
»An sich großartig. Bis auf diesen Tenor. Nach meinem Geschmack war der Kerl einfach eine Niete. Ich verstehe nicht, wie sich die Met so etwas erlauben kann.«
Phil sagte gar nichts. Er schob mir nur die Morgenausgabe irgendeiner Zeitung hin. Die Kritik war bereits aufgeschlagen. Ich las. Es war die übliche Opernkritik, bis auf eine kurze Feststellung: Für den berühmten und zweifellos erstklassigen Tenor Enjo Ferrucci hätte ein Sänger namens Alberto Marselli einspringen müssen.
Alberto Marselli?
Hatte ich diesen Namen nicht zufällig schon irgendwo mal gehört?
Ich nahm den Hörer vom Telefon, wählte die Nummer unseres Hausarchivs und sagte: »Hallo, Johnny! Gib mir mal die Registratur!«
Ich musste ein paar Sekunden warten, dann sagte eine sonore Männerstimme: »Registratur, Jackson.«
»Hallo, Walter! Hier spricht Jerry. Sieh doch mal nach, ob bei uns etwas bekannt ist über einen gewissen Marselli.«
»Marselli?«
»Ja, Alberto Marselli.«
»Einen Augenblick, Jerry. Ich sehe nach.«
Es dauerte ein paar Minuten, dann meldete sich mein Kollege aus der Registratur wieder: »Ich habe seine Karte gefunden.«
»Karte? Der Mann ist also vorbestraft?«
»Nein, das nicht. Vor ein paar Wochen wurde der Name in einem Rundschreiben der City Police erwähnt, weil Marselli in einen Verkehrsunfall verwickelt war.«
»Ist etwas über seine Person bekannt?«
»Nicht viel. Er ist hauptberuflich angestellter Tenor bei einer kleinen drittklassigen Bühne in den Außenbezirken.«
»Vielen Dank, Walter!«
Ich legte den Hörer auf und unterrichtete Phil von den erhaltenen Informationen. Als Erwiderung schob mir Phil die New York Times zu. Er hatte eine Schlagzeile rot unterstrichen. Ich sah mir das Blatt an.
WO IST ENJO FERRUCCI?
Gestern Abend fand die vierte Aufführung der Neuinszenierung von La Boheme in der Metropolitan Opera statt. Nachdem sich der Vorhang geöffnet hatte, ergab sich zur Überraschung des völlig unvorbereiteten Publikums, dass nicht der angekündigte berühmte Tenor Enjo Ferrucci die Partie des Rudolf sang, sondern ein völlig unbekannter Sänger, über dessen stimmliche Qualität hier keine Erörterungen angestellt werden sollen. Zu bemerken wäre freilich, dass die Intendanz es zum ersten Mal in der Geschichte der Metropolitan Opera nicht für nötig hielt, das Publikum wenigstens vor Beginn der Aufführung von einer derart wichtigen Umbesetzung zu unterrichten.
Eigenartig muss dabei berühren, dass vom Verbleib des berühmten Sängers auch bei der Direktion der Oper nichts bekannt ist.
Die Reporter unseres Blattes wussten von einem Interview her, dass Ferrucci zwei Tage vor der Aufführung noch gesund und munter war. Angeregt durch unser Interview versuchten vorgestern und gestern im Waldorf Astoria Tausende von Verehrern ein Autogramm zu erhalten.
Seit gestern Abend aber fehlt jede Spur von Ferrucci. Selbst bei Redaktionsschluss war der berühmte Tenor weder ins Hotel zurückgekehrt, noch hatte er sich bei der Direktion der Metropolitan Opera gemeldet, um irgendeine Erklärung für sein plötzliches Fernbleiben abzugeben. Die Direktion ist deshalb gezwungen
Weitere Kostenlose Bücher