0046 - Wir deckten seine Karten auf
June Christor gab sich große Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie saß auf der vorderen Kante des Sessels, und ihre langen schmalen Finger spielten und zupften nervös mit einem kleinen Taschentuch, das sich bereits in Fetzen aufgelöst hatte. Sie war mittelgroß, schlank, hatte braue Augen und besaß ein ausdrucksstarkes Gesicht.
Vor etwa zehn Minuten war sie zu mir ins Büro gekommen und wirkte völlig eingeschüchtert. Dass sie unter starkem Druck stand, war auf den ersten Blick zu sehen. Als sie zu erzählen begann, wusste ich sofort, was sie zu mir geführt hatte. Ich bewunderte ihren Mut und ihre Entschlossenheit, sich an uns vom FBI gewendet zu haben. June hatte natürlich keine Ahnung, dass wir uns bereits sehr intensiv mit dem Fall befasst hatten, aber das sagte ich ihr nicht.
»Ich habe von dem Vorfall in den Zeitungen gelesen«, sagte ich, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Es passierte vor drei Tagen, nicht wahr?«
»Daddy wollte wie gewöhnlich in die Redaktion gehen«, erwiderte sie. »Er ging an jenem Morgen so gegen neun Uhr aus dem Haus. Daddy benutzte seinen Wagen und hatte ihn wie gewöhnlich auf dem Parkplatz vor dem Haus abgestellt. Als er…«, sie brach ab und schluchzte auf. Ich stellte ihr keine Fragen, sondern wartete, bis sie wieder ruhiger geworden war. Sie tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und redete weiter: »Als Daddy an den anderen abgestellten Wagen vorbeiging, tauchte plötzlich dieser Gangster auf und sprühte ihm die Saure ins Gesicht… Während Daddy vor Schmerzen schrie und blind umhertappte, wäre er beinahe noch von einem Wagen überfahren worden.«
Ja, ich wusste Bescheid. Ich hatte alle Artikel darüber gelesen und wir vom FBI beschäftigten uns bereits mit der Fahndung nach dem Täter. In der Zentrale in Washington wurde bereits nach Säure-Attentätern gesucht und ich erwartete noch an diesem Tag die Hereingabe der ersten, vorläufigen Namensliste. Viel Hoffnung hatte ich aber nicht, den Gangster auf diese Art und Weise finden zu können.
»Was hat die Stadtpolizei bisher ermitteln können?«, fragte ich, um sie vom Weinen abzuhalten. Natürlich wusste ich, dass auch die Kollegen noch nichts erreicht hatten. »Daddy hat bisher alle Befragungen abgelehnt«, erwiderte June Christor, »und er verbot mir auch, dass ich mich an die Polizei wende…«
»Hat er Gründe dafür angeführt?«
»Er hat mir keine Erklärungen abgegeben«, erwiderte das Mädchen. »Aber ich denke, dass er sich um mich sorgt… Stellen Sie sich doch vor, seine Augen sind zerstört… Daddy wird nie wieder sehen können.«
»Gibt es keine Hoffnung mehr?«, fragte ich leise.
»Man will im Hospital alles versuchen, aber ich glaube nicht, dass Daddy noch einmal sehen wird«, meinte sie und schluckte. Sie ließ den Kopf sinken, und ihre schmalen Schultern bebten unter einem Weinkrampf.
Ich war aufgestanden und lief wie ein gefangener Tiger in meinem Büro herum. Ich rauchte nervös eine Zigarette und wusste nicht, wie ich dieses Mädchen trösten sollte. Worte waren fehl am Platz. Ich nahm mir aber vor, alle Kraft einzusetzen, um diesen Gangster zu stellen. Die Schwierigkeit war eben nur, dass Stanley Christor es bisher strikt abgelehnt hatte, uns zu empfangen. Auch die Beamten der Stadtpolizei hatten mit dieser Schwierigkeit zu kämpfen. Christor gab an, keinen Verdacht zu haben. Er wollte sich an nichts erinnern.
Die Haltung Stanley Christor entsprang offensichtlich der Angst um seine Tochter. Ich kannte einen anderen Christor, einen Zeitungsmann, der schonungslos in seinen Spalten die Wahrheit sagte. Ich und alle hier in der Stadt kannten einen Christor, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, das Gangstertum in seinen neuen Auswüchsen zu bekämpfen.
Stanley Christor war mehr als nur eine lokale Berühmtheit. Er hatte oft im Fernsehen und Radio gesprochen, hatte auch die Polizei schonungslos angegriffen und uns manche bittere Wahrheit gesagt. Und ausgerechnet dieser Christor wollte sich nun an nichts mehr erinnern, dieser Christor lehnte Interviews mit der Polizei ab.
»Daddy hat natürlich keine Ahnung, dass ich zum FBI gekommen bin«, redete June Christor weiter, »aber ich will, dass man den Täter findet…«
»Wir werden uns alle Mühe geben«, sagte ich zu ihr, »das setzt aber Ihre Hilfe voraus, Miss Christor.«
»Daddy bat mich, keine Informationen zu geben.«
»Ohne die können wir aber nicht arbeiten«, sagte ich ernst. »Ihr Vater, Miss Christor, hat
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