Garp und wie er die Welt sah
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Boston Mercy
Garps
Mutter, Jenny Fields, wurde 1942 in Boston festgenommen, weil sie einen Mann in
einem Kino verletzt hatte. Es war kurz nachdem die Japaner Pearl Harbor
bombardiert hatten, und die Leute ließen den Soldaten viel durchgehen, weil
plötzlich jeder Soldat war, Jenny Fields aber ließ Männern im Allgemeinen und
Soldaten im Besonderen nichts durchgehen.
Im Kino hatte sie dreimal
weiterrücken müssen, aber jedes Mal war der Soldat noch näher an sie
herangerückt, bis sie an der modrigen Wand saß, wo irgendeine alberne Säule ihr
fast die ganze Sicht auf die Wochenschau versperrte. Da beschloss sie, nicht
noch einmal aufzustehen und weiterzurücken. Der Soldat jedoch rückte abermals
weiter und setzte sich direkt neben sie.
Jenny war zweiundzwanzig. Sie
hatte das College angefangen und gleich wieder verlassen, aber die
Schwesternschule hatte sie als Klassenbeste absolviert, und sie war sehr gern
Krankenschwester. Sie war eine athletisch wirkende junge Frau mit frischer
Gesichtsfarbe, glänzendem dunklen Haar und einem Gang, den ihre Mutter als
männlich bezeichnete (sie schwenkte die Arme), und ihr Gesäß und ihre Hüften
waren so flach und schmal, dass sie von hinten wie ein Junge aussah. Jenny fand
ihre Brüste zu groß; sie [10] war der Meinung, durch ihren üppigen Busen sehe sie
wie ein »billiges Flittchen« aus.
Das war sie ganz und gar nicht.
Tatsächlich war sie vom College abgegangen, als ihr der Verdacht kam, ihre
Eltern hätten sie hauptsächlich deshalb nach Wellesley geschickt, damit sie
sich von irgendeinem jungen Mann aus gutem Hause erst ausführen und dann zum
Traualtar führen ließ. Das Wellesley College hatten ihre älteren Brüder
empfohlen. Wellesley-Absolventinnen, hatten sie ihren Eltern versichert, gälten
nicht als leichte Mädchen, sondern im Gegenteil als vorzügliche
Heiratskandidatinnen. Jenny spürte, dass ihr Studium für ihre Eltern nur eine
vornehme Methode war, Zeit zu schinden, als wäre sie in Wirklichkeit eine Kuh,
die nur auf die Einführung des Instruments zur künstlichen Besamung vorbereitet
würde.
Als Hauptfach hatte sie Anglistik
gewählt, doch als sie den Eindruck gewann, dass ihre Kommilitoninnen vor allem
anderen Bildung und sicheres Auftreten im Umgang mit Männern erwerben wollten,
fiel es ihr nicht schwer, die Literatur für die Krankenpflege hinzuwerfen. Die
Krankenpflege betrachtete sie als etwas, das sich unmittelbar in die Praxis
umsetzen ließ, und außerdem hatten die Schwesternschülerinnen bei ihrer
Berufswahl, soweit Jenny sehen konnte, keine anderweitigen Motive (später
schrieb sie in ihrer berühmten Autobiographie, dass sich viel zu viele
Schwestern viel zu vielen Ärzten feilboten, aber da hatte sie ihre Zeit als
Krankenschwester längst hinter sich).
Sie mochte die einfache Uniform
ohne jeden Firlefanz: Das Oberteil des Kittels ließ ihre Brüste kleiner wirken,
die Schuhe waren bequem und passten zu ihren weit [11] ausholenden Schritten.
Wenn sie Nachtwache hatte, konnte sie immerhin lesen. Und den Knaben vom
College, die beleidigt und enttäuscht waren, wenn man keine Zugeständnisse
machte, und überlegen und reserviert taten, wenn doch, trauerte sie nicht nach.
Im Krankenhaus sah sie mehr Soldaten und junge Arbeiter als Studenten, und die
waren offener und nicht so dünkelhaft in ihren Erwartungen; wenn man ihnen ein
bisschen nachgab, hatte man wenigstens bei der nächsten Begegnung das Gefühl,
dass sie sich freuten. Dann war plötzlich jeder junge Mann Soldat – und so aufgeblasen wie die Collegestudenten – , und Jenny Fields ließ sich überhaupt nicht mehr mit
Männern ein.
»Meine
Mutter«, schrieb Garp, »war ein einsamer Wolf.«
Die Fields hatten ihr
Vermögen mit Schuhen gemacht, wenn auch Mrs. Fields, eine geborene Weeks aus
Boston, einiges Geld mit in die Ehe gebracht hatte. Die Fields hatten mit ihren
Schuhen so viel verdient, dass sie sich schon vor Jahren aus den Schuhfabriken
zurückgezogen hatten. Sie lebten in einem großen, mit Schindeln gedeckten Haus
in Dog’s Head Harbor an der Küste von New Hampshire. Jenny fuhr an ihren freien
Tagen heim – hauptsächlich um ihre Mutter
zufriedenzustellen und die alte Dame davon zu überzeugen, dass ihre Tochter,
auch wenn sie als Krankenschwester »ihr Leben vergeudete«, wie die Mutter es
ausdrückte, sich weder sprachlicher noch moralischer Laxheit hingab.
Jenny traf sich bei diesen
Heimfahrten häufig mit ihren Brüdern an der North Station,
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