0053 - Eine Frau, ein Mörder und ich
hatte.
»Hat der Spurensicherungsdienst schon den Boden abgesucht?« fragte ich. Ian nickte.
»Ja. Aber wir haben die Stellung der Leiche zunächst unverändert gelassen, damit ihr sie euch auch einmal ansehen könnt.«
»Nett von dir, Ian«, sagte ich.
Ich ging ganz dicht an die Frau heran und bückte mich. Stück für Stück musterte ich ihre Kleidung. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und darunter eine langärmelige weiße Bluse. Am linken Ärmel war der winzige Manschettenknopf geöffnet worden oder aufgegangen.
Ich sah ihr von unten her ins Gesicht, das hach vorn auf die Brust herabgesunken war.
Und da erkannte ich sie.
Es war eine der Patientinnen, die ich mit Phil bei meinem ersten Besuch im Wartezimmer von Sarah hatte sitzen sehen.
»Wie lange ist die Frau jetzt mit Sicherheit tot, Doc« fragte ich.
»Mindestens fünf Stunden. Sie starb zwischen zehn und elf Uhr vormittags.«
Ich dachte nach. Es mußte ungefähr fünfzehn Minuten nach neun gewesen sein, als wir sie im Wartezimmer von Sarah gesehen hatten. Von dort bis hier war es eine lange Strecke.
»Wie kann man von der 31. Straße nach hier kommen, Phil?« fragte ich.
Er warf mir einen aufmerksamen Blick zu. Also hatte er die Frau auch schon erkannt. Es war nett von ihm, daß er trotzdem noch nichts gesagt hatte.
Er rechnete nach. Phil ist länger in New York als ich, und er kennt diesen Betonbaukasten wie kaum ein anderer.
»Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit«, sagte er. »Sie muß von der Ecke der 31. Straße — du weißt schon, welche Ecke ich meine — den Bus benutzt haben. Dann kann sie mit einmal Umsteigen gegen zehn Uhr hier gewesen sein.«
Ich wandte mich an den Arzt. »Doc, wie macht sich das Morphium bemerkbar? Gibt es einen jähen Tod? Oder dauert es lange?«
»Es dauert lange, Jerry. Aber Sie merken nichts davon. Es beginnt mit einer immer stärker werdenden Müdigkeit, die Sie nicht bekämpfen können. Ich stelle mir die Sache so vor: Die Frau ging hier die Straße entlang. Mit wankenden Knien bereits, denn die Müdigkeit muß sich schon in ihr ausgebreitet haben. Diese Müdigkeit wird schließlich so stark, daß Sie selbst mitten in einem Gespräch nur noch den einen Wunsch verspüren würden, jetzt auf der Stelle einschlafen zu dürfen. Und mit zunehmender Müdigkeit wird Ihnen Ihre Umwelt völlig gleichgültig. Sie nutzen jede Gelegenheit zum Hinsetzen und schlafen augenblicklich ein. Die Frau spürte ihre Müdigkeit, die sich schon lähmend auf ihre Willenskraft auswirkte. Sie wird die Toreinfahrt gesehen haben und dachte, sie könnte sich hinten im Hof vielleicht, unauffällig für einen Augenblick hinsetzen, um nur für fünf Minuten die Augen zu schließen. Sie wissen ja, wie es bei Übermüdung zugeht: Man meint, wenn man nur fünf Minuten die Augen schließen darf, wäre man hinterher wieder frisch. Die Frau unterlag dem gleichen Irrtum. Sie setzte sich in die Sonne, schloß die Augen — und sank in immer tiefer werdenden Schlaf, der schließlich zum Stillstand der Herztätigkeit und damit zum Tode führte.«
»Wenn sie aber schon zwischen zehn und elf starb, wie kommt es dann, daß sie so spät gefunden wurde? Oder wann ging die Meldung bei uns ein«
Ian blickte auf seine Armbanduhr.
»Vor etwas über eine Stunde. Gegen halb drei. Spielende Kinder, die gerade vom Mittagessen gekommen waren, hatten die Frau entdeckt und einen Mann im angrenzenden Haus verständigt. Der sah sofort, daß die Frau tot war, und alarmierte sofort den FBI.«
»Warum nicht die Stadtpolizei? Konnte er denn wjssen, daß hier ein Rauschgift mitspielte? Normalerweise ruft man doch die Stadtpolizei, wenn man irgendwo eine Leiche findet.«
»Der Mann ist erst vor einem halben Jahr in die Staaten eingewandert' Jerry. Er kennt sich in der Zuständigkeitder verschiedenen Polizeiorganisationen noch nicht richtig aus.«
»Aha. Sind irgendwelche Spuren gefunden worden, die ein Hinweis auf den Täter sein könnten?«
»Nein. Es war auch nicht zu erwarten. Da hier Kinder gespielt haben, ist die Erde zertrampelt. Und was an Papierschnitzeln herumliegt, stammt wahrscheinlich von den Kindern, obgleich wir natürlich alles genau untersuchen werden. Können wir die Stellung der Leiche jetzt verändern?«
»Ich habe nichts dagegen«, sagte ich. »Habt ihr Fotos von der Leiche schon gemacht?«
»Ja. Jackson hat sie bereits auf genommen.«
»Gut. Dann wollen wir mal sehen, was sich in ihrer Handtasche befindet. Vielleicht läßt sich damit
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