0061 - Kino des Schreckens
leichte Schwindelgefühl, das ihn gepackt hielt.
Er stieß Shao an.
Sie reagierte nicht.
Erst beim zweiten, etwas heftigeren Anstoß wurde sie aufmerksam. »Was ist?« Sie drehte den Kopf, und Suko sah in ihren Augen einen seltsamen Glanz.
Er wurde nachdenklich. »Spürst du nichts?« fragte er.
»Was?«
Suko lächelte. »Schon gut.«
Mit dieser Antwort hatte er gelogen. Nichts war gut. Etwas stimmte hier nicht.
Nur – was?
Suko drehte sich auf dem Sitz. Er merkte, daß diese Bewegung ihm schwerfiel. Eine innere Stimme wollte ihn davon abhalten, doch der Chinese setzte seinen Willen durch.
Wieder schaute er in Gesichter.
Regungslos saßen die Menschen in ihren Sitzen. Wie Statuen. Sämtliche Köpfe waren erhoben, die Augen hatten sie auf die Leinwand gerichtet. Kein Flüstern, keine leisen Gespräche, wie das sonst üblich war – nur die starren, auf die Leinwand gerichteten Blicke.
Dort lief inzwischen der Vorspann aus.
Die Schrift verschwand.
Der Film begann.
Suko drehte sich wieder um. Auch er schaute jetzt hoch zur Leinwand. Die Musik war leiser geworden, aber sie klang noch immer schrill und disharmonisch, passend zu den filmischen Vorgängen.
Nebel, wie sollte es anders sein. Schemenhaft nur waren die alten Grabsteine zu erkennen. Eine Gestalt, die über den Friedhof schlich, die näherkam.
Ein Kind…
Ein Mädchen. Jung – nicht einmal zehn Jahre. Sie trug ein rotes Kleid, ein Kopftuch und helle Strümpfe. Das Mädchen sang. Glockenhell klang die Stimme.
Die Musik steigerte sich. Das Mädchen ging nichtsahnend weiter. Fröhlich sang sie zu der Melodie.
Doch das Grauen lag schon auf der Lauer. Hinter einem Grabstein tauchte es auf.
Gierig – ein Monster…
Kameraschwenk. Man sah das Mädchen von vorn. Ein Lächeln umspielte den schmalen Mund. Wie ein Frosch hüpfte sie über ein flaches Grab. Irgendwo knisterte es.
Das Mädchen blieb stehen.
Schaute sich um.
Da weiteten sich ihre Augen. Entsetzen, Angst, Grauen – all diese Eigenschaften vereinigten sich in ihrem Blick. Noch sah der Zuschauer nicht, was das Mädchen entdeckt hatte, aber es mußte schlimm sein. Die Musik wurde zu einem regelrechten Inferno.
Suko schaute zur Seite.
Die Zuschauer waren gebannt.
Angespannt hockten sie auf ihren Sitzen, die Hände zu Fäusten geballt. Shao erging es nicht anders. Ihre Lippen bewegten sich, sie flüsterten unhörbare Worte.
»Shao!« Suko stieß das Mädchen an.
Sie reagierte nicht.
»Komm zu dir!« forderte er.
»Laß mich! Das Mädchen, es ist da – es lauert. Auch bei uns! Das Böse kommt, das Grauen ist nah…«
Abgehackt stieß Shao die Worte hervor, und Suko konnte ihr nicht einmal widersprechen. Auch er spürte den Odem der Angst. Wie ein schleichendes Gift machte er sich breit, erfüllte den Kinosaal, hüllte die Menschen ein, machte ihn zu seinen Gefangenen.
Grauenhaft…
Kamerastopp.
Dann ein Schwenk – Zeitlupe.
Jetzt sahen auch die Zuschauer, was das Mädchen zuvor entdeckt hatte. Ein peitschender Akkord.
Die Musik war gräßlich.
Ebenso gräßlich wie das Bild auf der großen Leinwand…
***
Ich fand vor der Polizeistation einen freien Parkplatz. Hier waren immer mehrere Parktaschen für Dienstfahrzeuge reserviert. Mein Bentley rollte in eine hinein.
In diesem Teil von Soho gab es nicht das totale Vergnügen. Hier überwogen die kleinen Geschäfte, Teestuben und Restaurants, sowie Pubs. Man trank hier ein Feierabendbier. Die Touristen bevölkerten die Gegend nur, wenn die Läden geöffnet hatten. Doch um diese Zeit waren die Shops schon geschlossen.
Das Revier lag in einem alten Backsteinbau. Auf dem Dach blitzte eine Antenne im letzten Licht der untergehenden Sonne. Die Strahlen fielen schräg über die Stadt und verzauberten manch schmutzige Ecke in einen romantischen Winkel.
Die unteren Fenster waren vergittert. Außerdem bestanden die Scheiben zur Hälfte aus undurchsichtigem Glas.
Ich klopfte und öffnete sofort die Tür.
Ein großer Raum nahm mich auf. Durch Holzgitter war er in mehrere Teile getrennt. Eine lange Bank an der Wand roch noch nach Farbe. Zwei Streuner saßen dort und warteten darauf, abgeholt zu werden. Bei einem schaute der Flaschenhals aus der Rocktasche.
»Ich möchte einen Sergeant Walcott sprechen«, sagte ich und blieb vor einer Holzbarriere stehen. »Mein Name ist John Sinclair!«
Der grauhaarige Mann spritzte hinter seinem Schreibtisch hoch. »Ich bin Sergeant Walcott«, meldete er und wollte strammstehen, um zu
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