Herzbesetzer (German Edition)
Prolog
Es ist mir immer schwergefallen, meinem Bruder Benjamin einen Wunsch abzuschlagen. Er hatte diese besondere Art, um etwas zu bitten, die es mir unmöglich machte, einfach nein zu sagen. Als er noch kleiner war, habe ich ihn bei fast jedem Spaziergang auf dem letzten Drittel der Strecke huckepack getragen. Ich machte seine Hausaufgaben, reparierte sein Fahrrad, überließ ihm das letzte Stück Kuchen, wischte den Saft auf, den er verschüttet hatte, und seit ein paar Monaten wimmelte ich die Mädchen ab, die ihn anriefen und von denen er nichts wissen wollte. Er war vierzehn und hatte noch ziemlich überzogene Vorstellungen von der Liebe.
An diesem Freitagabend im Oktober machte ich mich fertig, um ins Nightstar zu fahren. Ich zog ein frisches T-Shirt an, rubbelte mir Gel in die Haare und überprüfte meine Fingernägel – mehr Vorbereitung auf einen Discobesuch hielt ich mit neunzehn Jahren nicht für erforderlich. Benjamin lag mir schon den ganzen Abend in den Ohren. »Nimm mich mit, was soll denn schon passieren, du sagst doch selbst, sie machen keine Kontrollen, wenn sie mich nicht reinlassen, kann ich im Auto auf dich warten« und so weiter.
Unsere Eltern waren an diesem Wochenende zu einer Hochzeit in Dresden eingeladen, und er wollte die Gelegenheit nutzen. Bis jetzt war ich hart geblieben, aber ich spürte, wie meine Festung Risse bekam. Irgendwie konnte ich seinen Wunsch verstehen. Was sprach dagegen, ihn ein einziges Mal mitzunehmen? Er war ja kein kleines Kind mehr. »Also gut«, sagte ich mit einem resignierten Seufzen. »Mach dich fertig, wir fahren.« Im Auto teilte ich ihm sämtliche Regeln mit, an die er sich zu halten hatte: immer in meiner Nähe bleiben; nicht mehr als zwei Flaschen Bier, danach nur noch Cola; wenn ich das Kommando zum Aufbruch gab, keine unnötigen Verzögerungen – und vor allen Dingen: »Kein Wort zu Mama und Papa!« Er versprach, sich an alles zu halten, und drehte den CD-Player lauter. An der Kasse kümmerte sich niemand um sein Alter. Er zahlte drei Euro Eintritt, kriegte einen Stempel auf den Handrücken und war drin.
Ich hatte an diesem Tag bis sechs Uhr gearbeitet und war nicht besonders gut drauf. Wäre ich nicht mit ein paar Freunden verabredet gewesen, hätte ich einen ruhigen Fernsehabend vermutlich vorgezogen. Die Woche war stressig gewesen, und gestern Abend war ich mit Doro im Kino gewesen und erst weit nach Mitternacht schlafen gegangen. Aber die Musik war gut, und da war so eine schwarzhaarige Maus, die mich auf der Tanzfläche die ganze Zeit umkreiste und anlächelte, und außerdem waren Marco, Steffen und Sven in Feierlaune und versuchten dauernd, mich zum Trinken zu animieren. Das ging natürlich nicht, weil ich ja mit dem Auto da war. Ich trank – genau wie ich es auch meinem kleinen Bruder vorgeschrieben hatte – nur zwei Flaschen Bier und wechselte danach zu Cola. Na gut, einmal brachte mir Sven, dieser Scherzkeks, eine Cola mit, die verdächtig nach Rum schmeckte. Die trank ich auch. Aber ich war ganz bestimmt nicht betrunken.
Benni ließ den Coolen raushängen und tat, als sei das hier sein zweites Zuhause. Die dummen Sprüche meiner Freunde wie »Hoffentlich fangen sie bald mit dem Topfschlagen an, was, Benni?« prallten an ihm ab. Stattdessen ließ er auf der Tanzfläche die Sau raus, unterhielt sich lange mit einer niedlichen Brünetten und holte sogar eine Runde Getränke für mich und die Jungs. Ich konnte meinen Stolz nicht leugnen. Es war schön zu sehen, wie gut er sich amüsierte. Aus diesem Grund unterdrückte ich meine Müdigkeit noch ein bisschen und bestellte mir eine weitere Cola. Erst um kurz nach drei gab ich das Signal zum Aufbruch. Zu meiner Erleichterung folgte Benjamin mir bereitwillig.
»Na, wie hat’s dir gefallen?«, fragte ich, als ich die Autotür öffnete.
»Total geil«, sagte Benni erwartungsgemäß. »Also, ich weiß das zu schätzen, dass du mich mitgenommen hast. Echt.«
Das kam einem Dankeschön sehr nahe, und ich freute mich darüber. Ich startete den Wagen, fuhr aber nicht los. Mit einiger Verzögerung fragte Benjamin: »Warum fährst du nicht?« Und ich erwiderte: »Anschallen!«, was er mit Augenverdrehen und genervtem Stöhnen auch tat.
Von Walsleben nach Neuruppin sind es ungefähr sechzehn Kilometer, und man passiert ein paar verschlafene Dörfer, aber die meiste Zeit führt die Straße zwischen Feldern hindurch. Um diese Zeit konnte man fast sicher sein, keinem anderen Fahrzeug zu begegnen,
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