0068 - Die Geisternacht
schlüpfte jetzt in die Rolle des höflichen Gastgebers und erkundigte sich, ob die Herrschaften etwas zu trinken haben wollten. Sie waren nicht abgeneigt. Chilapa holte aus dem Regal vier Gläser und eine wohlgefüllte Karaffe. Er schüttete die Gläser randvoll.
Pulque, das mexikanische Nationalgetränk aus gegorenem Agavensaft. Für europäische Geschmacksnerven nicht unbedingt des Hochgenusses letzter Schluss und zudem in einer Höhe von rund zweitausendfünfhundert Metern nicht ganz ungefährlich für das körperliche Gleichgewicht. Aber die Besucher wollten nicht unhöflich sein. Sie tranken. Und es war dann auch gar nicht so schlimm.
Das Zeug schmeckte hier weitaus besser als in irgendeiner Hotelbar.
Zamorra kam wieder zurück zum Thema.
»Pepe Chilapa – ist das Ihr Sohn?«
»Sie haben gehört, dass er…«
»Si, Señor!«
»Er ist tot, ich weiß!« Der alte Mann sagte dies ruhig und gefasst.
Aber da war ein Ausdruck in seinen Augen, der seine wahren Gefühle verriet.
»Sie waren es! Die Jünger des Schrecklichen, nicht wahr?«, fügte er hinzu.
»Ja, es sieht so aus«, antwortete der Professor. »Die Jünger des Schrecklichen… Können Sie uns Näheres erzählen? Sie sind der eigentliche Grund unseres Besuches.«
Chilapa schlug die Augen nieder.
»Warten Sie«, gab er zurück. »Ein paar Minuten. Padre Henrique kann besser…«
So warteten sie. Nicht lange, dann kam die junge Frau zurück. In ihrer Begleitung befand sich ein Geistlicher der katholischen Kirche.
Ein Mann, der die Siebzig bereits erreicht, wenn nicht gar überschritten hatte. Schlank, hager an Körper und Gesicht, aber sehr sympathisch.
Sekundenlang blickte er Zamorra ins Gesicht. Anschließend schüttelte er den Kopf.
»Unglaublich!«, sagte er. Dann erst stellte er sich vor und machte sich mit den Namen der Besucher vertraut.
»Was ist unglaublich, Padre?«, hakte Zamorra sofort nach.
Der Geistliche antwortete nicht mit Worten. Er öffnete die Aktentasche, die er mitgebracht hatte, kramte ein Weilchen darin herum und holte dann etwas heraus.
»Da, sehen Sie selbst«, meinte er und überreichte dem Professor ein postkartengroßes Bild.
Es war eine Fotografie, schwarzweiß und nicht unbedingt von einem Meisterfotografen aufgenommen. Aber das Bild war dennoch ziemlich scharf und ließ kaum Irrtümer aufkommen.
Es zeigte einen schlanken, liegenden Mann, der ein weißes Gewand trug. Der Mann lag jedoch nicht auf einer sichtbaren Unterlage, sondern schien frei in der Luft zu schweben, von einem milchigen Halo umgeben. Er hatte die Augen geöffnet. Im Hintergrund waren Gesteinstrümmer zu erkennen. Aber denen schenkten weder der Professor selbst, noch Nicole und Bill besondere Aufmerksamkeit. Ihre Augen hingen wie gebannt am Gesicht des Mannes.
Sie alle drei kannten es recht gut.
Es war das Gesicht Professor Zamorras.
***
Tizoc Pizana gehörte zu jenen zahlreichen Campesinos, die aus dem Hinterland nach Mexiko-Stadt gekommen waren, um dort ihr Glück zu machen. Einige schafften es, die meisten jedoch nicht. Mehrere Jahre lang hatte Pizana versucht, sich als Schuhputzer, Zeitungsausträger und Gehilfe eines Anstreichers durchzuschlagen, um eines Tages doch noch auf den Zug des Erfolges springen zu können.
Aber der Zug der riesigen, schnelllebigen Metropole war zu rasch für ihn gefahren. Schließlich hatte er eingesehen, dass Ciudad de Mexiko nicht das richtige für ihn war und er hatte der Stadt der Verheißung, die für ihn zur Stadt der Enttäuschung geworden war, wieder den Rücken gekehrt. Aber er war zu stolz gewesen, um als Habenichts in sein heimatliches Dorf zurückzukehren. Und so war er unweit der Hauptstadt, in Sacromonte hängen geblieben. Er hatte diesen Schritt nie bereut, denn hier war er dem Glück, das er gesucht hatte, doch noch begegnet.
Das Glück hieß Maria und war die Tochter eines kleinen Landpächters, der in der Nähe Sacromontes einige karge Felder bewirtschaftete und froh war, seine Tochter unter die Haube bringen und sich selbst aufs Altenteil zurückziehen zu können. Tizoc Pizana sah sich am Ziel seiner Wünsche. Jahrelang war er der glücklichste Mensch der Welt gewesen.
Dann jedoch fielen Schatten auf sein Glück. Die Angst umschlich sein kleines Gehöft, das mehrere Meilen von der Stadt entfernt lag.
Seit die Jünger des Schrecklichen erstmalig aufgetaucht waren, hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Jederzeit war er darauf gefasst, dass sie kommen und ihn und Maria holen
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