0068 - Die Geisternacht
den letzten Jahren jedoch… Nun, ja, was soll ich lange reden. Plötzlich war er wieder da, wenn auch nur sporadisch. Jeweils nur für ein paar Tage oder auch nur für ein paar Stunden. Aber ansonsten genauso, wie es die Überlieferungen beschrieben haben. Ich selbst habe ihn mehrfach beobachtet und bei einer dieser Gelegenheiten diese Aufnahme gemacht. Viele Menschen hier aus Sacromonte haben den schlafenden Helden gesehen. Ich nehme an, Sie können das seltsame Verhalten der Leute Ihnen gegenüber jetzt verstehen, nicht wahr?«
In der Tat, Zamorra verstand dies jetzt. Allerdings nicht ganz. Da war immer noch die Geschichte mit dem Mord in der Altstadt und dem Überfall des Indianers mit seinem magischen Jaguar. Er stellte dem Padre entsprechende Fragen.
Der Gottesmann nickte bedrückt. »Natürlich«, murmelte er, »das was ich Ihnen bisher erzählt habe, war leider nicht alles. Diese Jünger des schrecklichen Tezcatlipoca, die Xamotecuhtli damals vernichtet haben soll, sie sind wieder da. Nicht dieselben natürlich, sondern Nachfahren von ihnen. Aber ihr Wüten ist mindestens genauso entsetzlich wie das ihrer Vorgänger. Sie tyrannisieren die gesamte Umgebung, entführen Menschen, verschleppen sie, opfern sie ihrem blutgierigen Götzen. Vor kurzer Zeit tauchten sie erstmalig auf, und seitdem lebt Sacromonte in Angst und Schrecken. Niemand ist in der Lage, ihrem Wüten Einhalt zu gebieten.«
»Das verstehe ich nicht«, warf Bill Fleming ein. »Es gibt doch eine Polizei.«
Padre Henrique lächelte schmerzlich. »Polizei! Wie wollen Sie gegen Feinde kämpfen, die nicht zu fassen sind? Die Jünger Tezcatlipocas tauchen auf wie Schatten, begehen ihre entsetzlichen Verbrechen und verschwinden wieder. Wenn man sie verfolgt… Sie sagten es bereits. Die Schrecklichen wehren sich mit … äh, unheiligen Mitteln. Sie schleudern Feuer und lassen wilde Bestien los.«
»Und wohin verschwinden sie?«, fragte Bill.
Achselzucken. »Sie kommen von den Tempelruinen und kehren auch dorthin zurück. Aber dann? Es ist stets, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Nur die Spuren ihrer bestialischen Menschenopfer…« Die Stimme versagte dem Priester, und er schüttelte sich.
»Und Pepe Chilapa?«, erkundigte sich Nicole Duval leise.
Der alte Mann beantwortete diese Frage mit beinahe tonloser Stimme.
»Vor drei Tagen sind die Jünger des Schrecklichen gekommen und haben Antonio geraubt«, sagte er. »Antonio, das ist – war – der sechsjährige Sohn von Pepe und Dolores. Sie haben ihn… abgeschlachtet wie ein Tier, diese Unholde. Pepe war außer sich vor Schmerz. Er ist nach Ciudad de Mexiko gefahren, um bei der Regierung vorstellig zu werden. Die örtlichen Polizeibehörden, verstehen Sie … Sie sind nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Die Armee müsste …« Hilflos hob er die Arme. »Aber wahrscheinlich würde auch das nichts nützen. Pepe hat dann wahrscheinlich durch Zufall Sie gesehen, Xamotecuhtli … Entschuldigung, Señor Zamorra, meine ich. Und er hat natürlich gedacht, dass Sie gekommen sind, um den Terror der Jünger Tezcatlipocas ein zweites Mal zu brechen. Einer der Jünger war ihm anscheinend auf der Spur und hat ihn getö- tet. Der Mörder hat Sie natürlich ebenfalls erkannt. Deshalb seine Überfälle auf Sie. Wenn er gewusst hätte, dass Sie gar nicht der Held der Chalca sind …«
Er sprach nicht weiter. Aber das war auch überflüssig.
Zamorra nahm die Fotografie noch einmal zur Hand und betrachtete sie ganz genau.
Und dann wurde ihm plötzlich ganz seltsam zumute. Vorhin, beim ersten Betrachten, war ihm eine Winzigkeit entgangen.
Am Hals des Mannes zeichnete sich eine dunkle Stelle ab.
Es sah ganz so aus, als hätte Xamotecuhtli ein Muttermal.
Auch er, Zamorra, hatte ein Muttermal am Hals.
Nicole, die ihn so gut kannte, wie kein zweiter Mensch, fiel sein plötzliches Zusammenzucken sofort auf.
»Ist was, Chef?«, fragte sie in französischer Sprache.
»Nichts!«, sagte der Professor schnell. »Gar nichts ist.«
Aber er sah ihr deutlich an, dass sie ihm kein Wort glaubte.
Er fragte den Padre: »Sagen Sie Padre, können Sie sich erinnern, wann der… wann Xamotecuhtli zum ersten Mal verschwand? Sie sprachen von etwas mehr als vierzig Jahren. Haben Sie das genaue Datum?«
»Das genaue Datum? Nein. Aber warten Sie, ich habe mir im Laufe der letzten Jahre Notizen gemacht. Vielleicht kann ich wenigstens das Jahr feststellen.«
Er griff nach seiner Aktentasche und fing an zu suchen.
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