0070 - Die Brücke ins Jenseits
glücklich, dir begegnet zu sein.«
Ein Wagen fuhr die Straße entlang. Zamorra wollte ihn anhalten, doch Selima bat ihn, nicht von ihr wegzugehen.
»Ich brauche keine Hilfe mehr«, sagte sie sanft. »Ich habe nur noch einen Wunsch: Ich möchte, daß du bei mir bist und meine Hand hältst, wenn ich… sterbe.«
Erschüttert würgte Zamorra den Kloß hinunter, der in seinem Hals steckte.
Selima nickte kaum wahrnehmbar. »In einem hatte Omar Namsi recht…«
»In was?« fragte Zamorra krächzend.
»Ich gehöre nicht in dein Jahrhundert…«
»Das finde ich ganz und gar nicht!« widersprach Zamorra.
Selimas Finger schlossen sich fester um seine Hand. Sie versuchte zuzudrücken. Er spürte es kaum.
»Leb wohl, Zamorra«, hauchte die Türkin mit langsam ersterbender Stimme.
Dann lösten sich ihre Finger ganz langsam. Ihre Hand ging auf wie eine Rose im Zeitraffer.
Selimas Leiden hatte ein Ende.
Zamorra war nicht froh darüber.
Tief bewegt erhob sich der Professor. Langsam begann das bildhübsche Mädchen zu Staub zu zerfallen. Der Parapsychologe mußte sich umdrehen. Er war psychisch nicht in der Lage, bei diesem körperlichen Verfall zuzusehen…
***
Ehe mit der Krankenevakuierung begonnen werden konnte, geschah etwas, das denjenigen, die in die Sache eingeweiht waren, die Haare zu Berge stehen ließen: Pater Jure kam aus der Isolierstation
… völlig geheilt. Alle sichtbaren Symptome der Pest waren von seinem dürren Körper verschwunden.
Er kam nicht allein aus der Isolierstation.
Alle, die von der Seuche befallen gewesen waren, verließen vollkommen gesund und wiederhergestellt die Station.
Der stellvertretende Leiter des Allgemeinen Krankenhaus ließ die laufende Aktion sofort abblasen. Nicole Duval, Bill Fleming, Kommissar Haydn… sie mußten sich alle einer gründlichen Untersuchung unterziehen.
Ein Wunder.
Was niemand für möglich gehalten hätte, war geschehen: die Seuchengefahr war gebannt. Die Pest war besiegt.
Sie wußten nicht, wie es dazu gekommen war.
Omar Namsi hatte mit seinem Tod den Fluch von der Stadt genommen…
***
Der Morgenwind fegte Selimas Staub dahin. Sie löste sich genauso in nichts auf, wie es die Brücke getan hatte.
Bewegt stand Zamorra nun auf der Straße. Im Osten kletterte langsam die Sonne am Horizont hoch. Der Tag erwachte. Ein strahlender Tag würde es werden. Ein herrlicher Tag, nach einer so schrecklichen Nacht.
Professor Zamorra blickte an sich hinab.
Fetzen hingen an seinem muskulösen Körper. Eingetrocknetes Blut klebte an seiner Brust. Er schaute zum Himmel empor und dankte Gott dafür, daß er noch am Leben war.
Langsam begann er zu gehen.
Seine Knochen waren müde. Jeder Schritt kostete ihn Mühe, aber er nahm diese Mühe gern auf sich, war sie doch ein untrügliches Zeichen dafür, daß es ihm gelungen war, allen Gefahren zu trotzen und zu überleben.
Es war ein weiter Weg zurück in die Stadt.
Aber es war nicht so weit wie der Weg von 1683 bis hierher…
***
Flughafen Wien-Schwechat, 18.00 Uhr.
Zwei Wochen waren vergangen. Nicole Duval, Professor Zamorra und Bill Fleming saßen in der Wartehalle. Sie versuchten sich unbekümmert zu geben, aber das waren sie nicht. In ihren Gesichtern war deutlich zu erkennen, daß sie das überstandene Abenteuer noch nicht vergessen hatten.
Der Flug nach Paris wurde aufgerufen.
»Also dann«, sagte Professor Zamorra. Er erhob sich. »Deine Maschine geht in fünfzehn Minuten«, sagte er zu Bill Fleming.
Der Historiker lächelte schief. »Ehrlich gesagt, es hat eine Zeit gegeben, da hatte ich geglaubt, von hier nicht mehr wegzukommen.«
»Bill!« sagte Nicole rügend. Sie küßte Fleming zum Abschied auf beide Wangen. »Wir wollten doch nicht mehr darüber sprechen.«
Der Historiker nickte. »Ich bin ja schon still. Einen guten Flug wünsche ich euch.«
»Dasselbe wünschen wir dir«, sagte Professor Zamorra.
»Laßt Paris herzlich von mir grüßen.«
»Und du von uns New York«, gab Nicole Duval zurück.
Dann trennten sie sich.
Kurz darauf raste die Air-France-Maschine über die Startpiste. Sie bohrte sich in einen grauen Himmel und flog über den Zentralfriedhof…
Ein seltsames Gefühl beschlich Nicole Duval, als sie auf den riesigen Gottesacker hinabsah.
Erst später, als sie sich von der Stewardeß einen Cognac hatte bringen lassen, begann sich dieses Gefühl allmählich zu verflüchtigen.
Sie lehnte sich entspannt zurück, schloß die Augen und versuchte nun endgültig zu
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