0071 - Knochensaat
leben. Unwillkürlich unterbrach der Totengräber seine Arbeit, dann lachte er auf und schalt sich einen Narren. Wenn er sich jetzt verrückt machen ließ, konnte er einpacken. Das Skelett konnte nicht mehr leben. Vorsichtig befreite er die übrigen Teile des Skeletts von Schmutz und Lehm. Dann lag das Gerippe vor ihm. Spatzek schluckte.
Plötzlich verspürte er Angst, denn das, was er sah, war ihm noch nie untergekommen.
Der Tote – das Skelett – hatte die Beine angewinkelt und die knochigen Hände zu Fäusten geballt. Aber so etwas war nur möglich, wenn der Tote noch gelebt hatte, als man ihn begrub…
***
Hastig schlug Fred Spatzek ein Kreuzzeichen. »Herrgott, Maria und Jesus!« flüsterte er rauh. »Das darf doch nicht wahr sein! Die – die konnten doch keinen Lebenden begraben.« Und doch gab es so etwas.
Spatzek fielen die Geschichten von Scheintoten ein. Man erzählte sich, daß ein Scheintoter, wenn er im Grab erwachte und erfaßte, wo er sich befand, in seiner Verzweiflung das Hemd anfraß, sich dabei wild bewegte, bis er qualvoll erstickte.
Dem Totengräber lief eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.
Wenn er näher darüber nachdachte, dann war das, was er hier erlebte, der reinste Horror.
Grauenvoll…
Schnell schaute er sich um.
Der Friedhof war leer. Er befand sich als einzig Lebender darauf. Aus seiner Perspektive sahen selbst die Grabsteine und Kreuze bedrohlich aus. Und das flackernde Licht der kleinen Lämpchen trug ebenfalls dazu bei, daß die Atmosphäre noch gespenstischer wirkte.
Fred Spatzek, der Totengräber, wurde von Angst regelrecht durchgeschüttelt. Er wollte seine Arbeit so rasch wie möglich beenden, und dann nur weg von diesem unheimlichen Ort. Er beschloß außerdem, mit keinem Menschen über seine Entdeckung zu reden.
Fred bückte sich und nahm zuerst den Totenschädel in beide Hände. Den Spaten hatte er an die Innenwand des Grabes gelehnt.
Überrascht runzelte der Totengräber die Stirn. Mit dem Kopf stimmte etwas nicht. Normalerweise fühlte sich das Gebein kalt an, aber in diesem Fall war es warm, als würden die bleichen Knochen von einem unnatürlichen Leben erfüllt sein.
Dieser Schädel – er lebte!
»Aahhh…!« Der Totengräber schrie auf und ließ den Kopf fallen. Er klatschte auf den feuchten Lehm und blieb dort liegen.
Bewegungslos!
Tief saugte Fred Spatzek die Luft in seine Lungen. Er wollte aus dem Grab flüchten, doch jetzt blieb er. Ruhig lag der Totenschädel vor ihm.
Spatzek lächelte plötzlich, doch das Lächeln zerfaserte zu einer Grimasse. Eine Täuschung. Ja, er war einer miesen Täuschung zum Opfer gefallen. Er war einfach überreizt, die Nerven hatten ihm einen bösen Streich gespielt. Ein lebender Schädel! Wo gab es denn so etwas? Spatzek beschloß, einmal einen Arzt aufzusuchen. In zahlreichen Illustrierten hatte er über den Begriff Streß gelesen. Vielleicht litt er darunter.
Er machte sich wieder an die Arbeit. Als er den Schädel zum zweitenmal in die Hand nahm, hatten sich seine Nerven entspannt. Ihm kam die seltsame Wärme auch nicht mehr komisch vor. Dieser Schädel war eben anders als normal. Aus der Jackentasche holte er einen dieser modernen Müllbeutel, die ein sehr großes Fassungsvermögen hatten, aber auch leicht zusammenzufalten waren. Er öffnete den Müllbeutel und ließ den Schädel hineinrollen. Vorsichtig, damit er nicht zerstört wurde.
Spatzek wollte die Gebeine möglichst unbeschädigt an die Knochenrutsche bringen. Nach dem Schädel nahm er die Armknochen in die Hand. Auch sie fühlten sich nicht so kalt an wie sonst üblich, aber nicht so warm wie der Schädel des Gerippes. Vorsichtig legte der Totengräber die Gebeine in den Plastiksack. Er brauchte genau zwei Minuten, dann hielt er den letzten Fuß in der Hand. Schließlich lagen alle Gebeine im Sack.
Er kletterte aus der Grube, nachdem er den Sack so hingestellt hatte, daß er ihn bequem von außerhalb des Grabes herausheben konnte. Fred Spatzek ging in die Knie und hob den Sack hoch. Die darin befindlichen Knochen klapperten gegeneinander, als er den Plastiksack bewegte. Es war eine schaurige Musik, die bei Spatzek eine Gänsehaut verursachte. Noch immer schien der Mond. Er war jetzt weitergewandert und warf sein kaltes Licht direkt auf den Friedhof.
Spatzek wußte auch nicht, warum er ausgerechnet jetzt daran denken mußte, aber in alten Geschichten stand zu lesen, daß der Mond die Kraftquelle des Bösen war und den Mächten der
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