0071 - Knochensaat
Toten auf dem Weg ins Jenseits und Mahnung für die Lebenden auf der Erde.
Manche Grabsteine hatten ein kleines Vermögen gekostet. Sie waren Meisterwerke handwerklicher Steinmetzkunst, doch in ihren Motiven oft überaus kitschig, wenn man sie mit den Augen eines Kunstkritikers betrachtete. Links wurde der Friedhof von der Kirchenwand begrenzt, auf der rechten Seite verschloß ihn eine zwei Meter hohe Mauer vor neugierigen Blicken. Doch am Ende der Mauer befand sich ein kleines Tor. Dahinter lag ein verwilderter Garten, und dort stand auch der kleine Bretterschuppen, in dem Fred Spatzek die Geräte aufbewahrte, die er für seine Arbeit benötigte.
Auf die Spitzhacke konnte er verzichten. Die nahm er nur, wenn der Boden gefroren war. Aber Spaten und Schaufel waren wichtig. Er lud beides auf seine rechte Schulter, hielt mit der linken Hand die Werkzeuge in der Waage und betrat wieder den kleinen Friedhof. Das Grab direkt an der Mauer war das älteste. Fred Spatzek legte die Schaufel zur Seite und begann damit, den Lehm aufzustechen. Zum Glück hatte das Grab nur ein einfaches Steinkreuz und kein riesiges Mal, so daß sich das Kreuz relativ leicht entfernen ließ. Fred Spatzek arbeitete schnell und geschickt. Spatzek hatte im Laufe der Jahre eine gewisse Technik beim Ausheben eines Grabes entwickelt. Sie ermöglichte es ihm, ohne großen Kraftaufwand viel zu schaffen. Er stach den Spaten mit einer routinierten Gleichmäßigkeit in das kalte Erdreich, und trotz dieser harten Arbeit ging sein Atem kaum schneller.
Neben und hinter ihm wurde der Erdhügel immer höher. Spatzek würde ihn noch brauchen, um das Grab am übernächsten Tag nach der Beerdigung wieder zuzuschaufeln.
Zuschauer hatte er keine. Niemand wollte ihn freiwillig bei seiner makabren Arbeit beobachten. Natürlich hätte das Dorf längst einen neuen Friedhof woanders anlegen können, doch seit Jahrhunderten verfuhr man so wie der Totengräber Spatzek. Man öffnete alte Gräber, um für die neue Leiche Platz zu schaffen. Die Dämmerung holte den Totengräber ein, und auch die Dunkelheit kam.
Am samtblauen Himmel blitzten die ersten Sterne. Sie erschienen Spatzek wie unendlich weit entfernte Diamant-Splitter, die eine gewaltige Hand gegen den Himmel geschleudert hatte. Dann mußte er in die Grube hineinklettern, um weiter schaufeln zu können.
Nur der Oberkörper schaute noch aus dem Grab hervor. Mit einer fast maschinellen Gleichmäßigkeit flogen die Erdbrocken aus der Grube und erhöhten den Lehmhügel. Dann stieß Spatzek auf den Sarg, oder vielmehr dessen Überreste. Das Holz war völlig verfault und kaum noch als solches zu erkennen. Er zerbröselte zwischen den Fingern, wenn man es anfaßte.
Fred Spatzek grub jetzt vorsichtiger, denn er wollte die Knochen des Leichnams nicht zerstören. In diesem Grab lag ein Mann. Er war Anfang der dreißiger Jahre gestorben, noch vor dem Zweiten Weltkrieg.
Der Totengräber vertauschte den Spaten mit der Schaufel. Er grub auch nicht mehr direkt weiter, sondern trug die Erde vorsichtig ab. Dabei stellte er sich an das Ende des Grabes. Am Himmel stand der Mond. Er sah aus wie eine durchgeschnittene Zitrone und nahm an Stärke zu. Sein silbrigfahles Licht beleuchtete nicht nur die Berge des Bayerischen Waldes, sondern fiel ebenso auf den kleinen Friedhof dicht an der alten Kirchenmauer. Wie ein Gespinst breitete sich der kalte Schein aus, und unwillkürlich drehte der Totengräber den Kopf und schaute hinauf zum Himmel. Er sah nur den Mond und die weiter entfernten Sterne. Eigentlich nichts Besonderes, und doch war dieser Abend anders als die übrigen.
Fred spürte es genau. Ein unruhiges Gefühl breitete sich in seinem Innern aus, und auch seine Arbeit kam ihm plötzlich komisch vor. Nicht daß er große Angst gehabt hätte, aber er beeilte sich doch, fertig zu werden. Die Atmosphäre des Friedhofs gefiel ihm nicht. Sie hatte sich verändert, verdichtet, so – als würde etwas unbeschreiblich Grauenvolles irgendwo auf ihn lauern. »Ich spinne«, murmelte Spatzek. »Langsam werde ich alt. Am besten hänge ich den Totengräber an den Nagel, aber sie finden ja keinen, der mich ablösen würde.« Mit Selbstgesprächen vertrieb er sich die Furcht und die nächsten drei Minuten. Dann stieß er auf die ersten Knochen. Er legte den Schädel frei.
Das Mondlicht fiel jetzt voll in das Grab und leuchtete auf den grinsenden Totenkopf. Fred Spatzek erschrak.
Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde dieser Schädel
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