009 - Der Engel von Inveraray
der Sie so schwächt. In ein paar Minuten geht es Ihnen wieder besser."
Genevieve genoss Eunices tröstende Umarmung. „Wenn er ein wenig mehr Zeit gehabt hätte", meinte Doreen bekümmert, „dann wäre es ihm vielleicht gelungen herauszufinden, wer diese Schurken in jener Nacht auf ihn angesetzt hat, und dieser ganze verfluchte Schlamassel hätte aufgeklärt werden können."
Wenn Constable Drummond und seine Männer ihrer Arbeit gewissenhaft nachgekommen wären, dann hätten sie versucht, die anderen Männer aufzuspüren, die Haydon überfallen haben, dachte Genevieve verbittert. Da er das Verbrechen jedoch nicht selbst angezeigt hatte, galt Haydon vom Augenblick seiner Verhaftung an als betrunkener Mörder. Den Behörden lag nichts daran, die Wahrheit herauszufinden. Ein Mann war tot, und alles, was sie wollten, war, der aufgeschreckten Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie den gemeinen Täter gefasst und hingerichtet hatten. Den Schurken, die Haydon angegriffen hatten, war es in jener Nacht nicht gelungen, ihn umzubringen. Nun würde die Justiz diese Aufgabe für sie zu Ende bringen.
Es ist nicht gerecht, befand Genevieve und spürte, wie jähe Wut in ihr aufstieg. Ich werde nicht einfach tatenlos zusehen, wie es geschieht, schwor sie sich.
„Oliver, hole bitte die Kutsche", bat sie und löste sich aus Eunices tröstender Umarmung. „Wir fahren zum Gefängnis."
Oliver warf ihr einen besorgten Blick zu. „Ihn noch einmal zu sehen, wird Ihr Leid nur verschlimmern, Mädchen. Ich glaube nicht ..."
„Lord Redmond ist kein Mörder, Oliver", unterbrach ihn Genevieve. „Ich werde nicht zulassen, dass man ihn für ein Verbrechen hängt, das er nicht begangen hat."
„Doch wie wollen Sie das verhindern?" erkundigte sich Eunice. „Er ist bereits rechtskräftig verurteilt worden."
„Ich glaube nicht, dass das Gericht alle Fakten seines Falles kannte, denn es ist viel zu schnell zur Verhandlung gekommen. Ich werde mit dem Richter sprechen und ihn bitten, die Hinrichtung zu verschieben, weil wir neue Beweise für Lord Redmonds Unschuld liefern können."
Oliver runzelte die Stirn. „Und was für Beweise sollen das sein?"
„Ich habe keine Ahnung", gab Genevieve zu. „Doch wenn wir ein wenig Zeit gewinnen, können wir wenigstens einige Nachforschungen anstellen ... am besten gleich hier in Inveraray. Jemand muss etwas über die Männer wissen, die ihn in jener Nacht überfallen haben. Ich möchte herausfinden, wer sie waren und warum sie Haydon umbringen wollten."
Governor Thomson saß mit einer silbernen Schere in der Hand an seinem Schreibtisch und war im Begriff, einige widerspenstige Haare seines ansonsten tadellos gestutzten Bartes zu trimmen.
„Wo ist er?" fragte Genevieve, als sie durch die Tür seines Büros stürmte.
Der Gefängnisdirektor fuhr vor Schreck heftig zusammen. Graue Barthaare rieselten auf die polierte Oberfläche seines Schreibtischs.
„Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben!" rief er, den Blick entsetzt auf das abgeschnittene Barthaar gerichtet. Er hielt den eleganten Handspiegel vor die verunstaltete Stelle und schnappte entsetzt nach Luft. „Ihretwegen habe ich ein Loch in meinen Bart geschnitten!"
„Wo ist er?" wiederholte Genevieve ungerührt.
Governor Thomson starrte gedankenverloren auf sein Spiegelbild und strich mit den Fingern durch die verbliebenen Haare, um herauszufinden, ob sie sich so zurechtkämmen ließen, dass die klaffende Lücke in seinem Bart nicht mehr sichtbar war. „Wer?"
„Sie wissen sehr wohl, von wem ich spreche. Bringen Sie mich bitte auf der Stelle zu Lord Redmond."
Er schaute sie völlig entgeistert an. „Lord Redmond?"
Warum stellte er sich nur so begriffsstutzig an? „Er ist heute Morgen verhaftet worden. Ich möchte ihn sehen, um
mich zu vergewissern, dass er nicht misshandelt wurde, doch ich verspreche Ihnen, wenn dies der Fall sein sollte, dann ..."
„Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor, Mrs. Blake", unterbrach Governor Thomson sie und legte seinen Spiegel hin. „Heute wurden keine neuen Gefangenen eingeliefert."
„Aber gewiss doch," beharrte sie. „Der Marquess of Redmond ist vor über zwei Stunden verhaftet worden."
„Tatsächlich?" Er wirkte aufrichtig überrascht. „Von wem?"
„Von drei Polizisten - die Namen kenne ich nicht. Sie müssen ihn hergebracht haben."
Governor Thomson schüttelte den Kopf. „Ohne meine persönliche Genehmigung wird kein Gefangener in eine Zelle gesteckt. Ich bin seit sieben Uhr morgens
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