01 - Botschaft aus Stein
einem Maya-Spezialisten in Verbindung zu setzen. Aber mit einem, dem er vertrauen konnte.
In einiger Entfernung suchte Ericson sich einen Schlafplatz, denn die Nacht musste er wohl oder übel hier verbringen. Spätestens am Morgen würde er wissen, ob der Angreifer allein gewesen war.
Vom nahen Atuona Airport klang das Dröhnen anlaufender Propeller herüber. Es wurde lauter, hallte durch die Schlucht und verklang Minuten später in den regenschweren Wolken.
***
Es war kurz nach 23 Uhr Ortszeit auf den Marquesa-Inseln. Tom Ericson warf einen raschen Blick auf die Leuchtanzeige seiner Armbanduhr. Für einen Moment hatte er tatsächlich geglaubt, nur kurz eingenickt zu sein, doch er hatte über eine Stunde tief und traumlos geschlafen.
Es regnete nicht mehr. Allerdings hing ein stetes Rascheln im Blätterdach, und hin und wieder kam ein Wasserschwall aus der Höhe. Tom trug den Regenumhang aus seinem spärlichen Gepäck. Wider besseres Wissen hatte er die Folie eingesteckt, obwohl die Monate von September bis November zu den trockenen gehörten. Das Wasser hatte ihn dennoch erwischt. Immer noch rann es aus seinem Haar über das Gesicht und in den Nacken.
Was jahrzehntelang für das Klima gegolten hatte, stimmte nicht mehr. Klamm fühlte sich ohnehin alles an, aber die überschüssige Nässe in der Kleidung würde bald abtrocknen.
Der Archäologe lehnte am Stamm eines mächtigen Schraubenbaumes. In der Nähe kreischten Vögel um die Wette; nach einigen Minuten war alles wieder ruhig.
Ericson hatte über die Stele nachgedacht und war nun entschlossen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er wusste zwar eine Menge über die Völker Mesoamerikas, doch er maßte sich keineswegs an, ein Spezialist zu sein.
»Branson.« Der Name lag ihm regelrecht auf der Zunge, als er aufwachte. Professor Seymor Branson. Sie hatten sich im vergangenen Jahr in Australien kennengelernt, anlässlich eines Archäologenkongresses. Branson war Fachmann für mittelamerikanische Geschichte und hatte mehrere bedeutende Arbeiten zur Klassischen und Nachklassischen Periode verfasst. Mindestens noch bis ins Jahr 2012 hinein würde der Mann mehrere Ausgrabungen auf Yucatán zum Maya-Komplex leiten.
Branson war ihm sofort sympathisch gewesen, und umgekehrt galt das wohl auch. Sie hatten nach den Veranstaltungen in der Hotelbar zusammengesessen und stundenlang über Mayas und Azteken geredet.
Einen Versuch war es wert; wenigstens ein paar Fragen würde Branson ihm beantworten können. Und der Zeitpunkt war günstig, im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn er richtig schätzte, betrug die Zeitdifferenz zwischen den Marquesas und Yucatán viereinhalb Stunden.
Bransons Nummern hatte er gespeichert, nur kam die Satellitenverbindung nicht sofort zustande. Einige Minuten vergingen.
Als Tom schon nicht mehr damit rechnete, wurde der Ruf angenommen. Einen endlos langen Moment war Stille, dann erklang ein eher mürrisches »Ja?«.
»Hallo Seymor! Hier ist Ericson. Tom Ericson.«
Schweigen. Dann, nach einigen Sekunden: »Und…?«
»Falls Sie sich nicht an mich erinnern, Seymor: Wir haben uns im vergangenen Jahr in Australien getroffen und uns ziemlich lange und ausführlich in der Hotelbar unterhalten.«
»Ich… entsinne mich«, kam es zögerlich zurück. »Und Sie wollen das Gespräch jetzt fortführen… Tom?« Den Namen sprach der Mann auf Yucatán aus, als wisse er noch immer nicht recht, wem er ihn zuordnen solle.
»Sie sagten mir damals…«
»Ich weiß, was ich sagte«, unterbrach ihn Branson schroff. »Wir wollten unser Fachgespräch ein andermal fortsetzen. Ist jetzt dieses… andermal?«
Was wollte Branson hören? Dass Ericson ihn fragte, ob er besser erst nächste Woche wieder anrufen solle?
Offenbar dauerte sein Zögern Branson schon zu lange. »Was wollen Sie, Tom?«, fragte der Professor gedehnt.
Langsam aber sicher gewann Ericson das Gefühl, seine Einschätzung des Kollegen revidieren zu müssen. Vielleicht hatte Seymor nach den Cocktails in der Bar einfach gelöster reagiert. Wahrscheinlich stand er momentan unter Grabungsstress; irgendetwas lief bekanntlich immer aus dem Ruder.
»Es geht um einen Maya-Fund«, sagte Ericson.
Sein Kollege, er war gebürtiger Kanadier, wenn Tom das richtig in Erinnerung behalten hatte, zögerte schon wieder.
»Ich komme bei der Entschlüsselung einiger Syllabogramme nicht weiter.«
»Und da erwarten Sie meine Unterstützung? Wegen ein paar Schriftzeichen, die Sie mit etwas Geschick im Internet
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