Urangst
1
Amy Redwing saß am Steuer ihres Ford Expedition Geländewagens und fuhr so, als sei sie unsterblich und hätte daher bei keiner Geschwindigkeit etwas zu befürchten.
In der launischen Brise wirbelte ein trichterförmiger Strom von goldenen Platanenblättern über die nachmitternächtliche Straße. Sie schoss hindurch, und spröder Herbst streifte die Windschutzscheibe.
Für manche ist die Vergangenheit eine Kette, jeder Tag ein Glied, die sich in mühsamer Kleinarbeit zu dem einen oder anderen Ringbolzen an dem einen oder anderen dunklen Ort zurückverfolgen lässt, und die Zukunft eine Sklavin der Vergangenheit.
Amy Redwing kannte ihre Herkunft nicht. Sie war im Alter von zwei Jahren ausgesetzt worden und hatte keine Erinnerung an ihre Mutter oder ihren Vater.
Sie war in einer Kirche zurückgelassen worden, mit an ihr T-Shirt geheftetem Namen. Eine Nonne hatte sie schlafend in einer Kirchenbank gefunden.
Höchstwahrscheinlich war ihr Nachname erfunden, um Nachforschungen zu erschweren. Die Polizei war jedenfalls daran gescheitert.
Redwing ließ auf indianische Vorfahren schließen. Rabenschwarzes Haar und dunkle Augen sprachen für Cherokee, aber ihre Eltern hätten ebenso gut aus Armenien, Sizilien oder Spanien stammen können.
Amys Geschichte blieb unvollständig, doch die fehlenden
Wurzeln machten sie nicht frei. Sie war an einen Ringbolzen gekettet, der im Stein eines fernen Jahres verankert war.
Obgleich sie sich so unbekümmert gab, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie sei zu Höhenflügen fähig, war sie in Wirklichkeit so erdgebunden wie jeder andere auch.
Brian McCarthy saß angeschnallt auf dem Beifahrersitz, stemmte die Füße gegen nicht vorhandene Bremspedale und hätte Amy gern ermahnt, langsamer zu fahren. Er sagte jedoch nichts, da er befürchtete, sie würde auf seine Bitte um Vorsicht reagieren, indem sie den Blick von der Straße wandte.
Außerdem konnte es, wenn sie in einer Mission wie dieser unterwegs war, absurderweise passieren, dass jedes Flehen um Besonnenheit sie nur dazu anstachelte, noch mehr Gas zu geben.
»Ich liebe den Oktober«, sagte sie und wandte den Blick von der Straße ab. »Du nicht?«
»Wir haben noch September.«
»Ich kann den Oktober doch auch im September schon lieben. Dem September macht das nichts aus.«
»Pass auf, wo du hinfährst.«
»Ich liebe auch San Francisco, obwohl es Hunderte Meilen entfernt ist.«
»Bei deinem Fahrstil werden wir in zehn Minuten da sein.«
»Ich bin eine ausgezeichnete Autofahrerin. Keine Unfälle, keine Verstöße gegen die Verkehrsregeln.«
Er sagte: »Mein ganzes Leben zieht gerade vor meinen Augen vorüber.«
»Du solltest dir einen Termin beim Augenarzt geben lassen. «
»Bitte, Amy, sieh mich nicht ständig an.«
»Aber du siehst gut aus, Liebling, wenn du frisch aus dem Bett kommst. Verstrubbeltes Haar steht dir.«
»Ich meine, schau auf die Straße .«
»Dieser Marco, so heißt er, glaube ich – er ist blind, aber er fährt einen Wagen.«
»Welcher Marco?«
»Marco Soundso. Er lebt auf den Philippinen. Ich habe von ihm in einer Zeitschrift gelesen.«
»Kein Blinder kann Auto fahren.«
»Vermutlich glaubst du auch nicht, dass wir tatsächlich Männer auf den Mond geschickt haben.«
»Ich glaube nicht, dass sie dorthin gefahren sind.«
»Marcos Hund sitzt auf dem Beifahrersitz. Und Marco merkt dem Hund an, wann er nach rechts oder links abbiegen und wann er auf die Bremse treten soll.«
Manche Leute hielten Amy für eine charmante Spinnerin. Anfangs hatte Brian das auch getan.
Doch dann hatte er gemerkt, dass er sich irrte. Er hätte sich niemals in eine Spinnerin verliebt.
Er sagte: »Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass Blindenhunde Autofahren können.«
»Der Hund fährt doch nicht, du Dummerchen. Er führt Marco, wenn er am Steuer sitzt.«
»In was für einer bizarren Zeitschrift hast du das denn gelesen?«
» National Geographic. Es war eine so ermutigende Geschichte über die Bindung zwischen Mensch und Hund, über die Hilfe zur Selbsthilfe von Behinderten.«
»Ich würde wetten, dass es nicht National Geographic war.«
»Ich lehne jede Form von Glücksspiel ab«, sagte sie.
»Aber Blinde am Steuer lehnst du nicht ab.«
»Na ja, es müssen schon verantwortungsbewusste Blinde sein.«
»Kein Land der Erde«, beharrte er, »erlaubt Blinden das Autofahren.«
»Nicht mehr«, stimmte sie ihm zu.
Brian wollte die Frage eigentlich nicht stellen, konnte sie sich aber doch
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