01 - Botschaft aus Stein
nicht einmal zu Jesus-Ernesto auf, als er bestellte. Sein Blick ging zur anderen Straßenseite. »Quiero una sopa de aztecas y un agua mineral«, murmelte er, und der Kellner hatte den Eindruck, dass der Mann einfach wahllos irgendwas bestellt hatte.
»Si.« Mehr brauchte der Kellner gar nicht zu sagen. Der Mann saß stocksteif da und reagierte nicht. Er war ungewöhnlich blass, und dass er ausschließlich weiße Kleidung trug, verstärkte diesen Eindruck noch. Als wäre ein Geist auferstanden, einer der ehemaligen Herren von der Hazienda Yaxcopoil, Don Donaciano vielleicht.
Jesus-Ernesto musterte den Mann, während er das bestellte Mineralwasser, Glas und Flasche, zum Tisch brachte. Mit dem Don, fand er, lag er ganz richtig. Jeder Zoll an dem Fremden wirkte erhaben und steif.
»Die Suppe dauert wenige Minuten«, sagte der Kellner. Das tat er selten. Jetzt war es angebracht. Der Mann sah immerhin aus, als hätte er mehr als nur ein paar Pesos Trinkgeld übrig.
Der Don reagierte lediglich mit einem undefinierbaren »Hm«.
Er war größer als Jesus-Ernesto, aber das war nicht unbedingt ein Kunststück. Sein Alter… schwer zu schätzen. Auf gewisse Weise zeitlos, fand der Kellner.
Von dem Gesicht des Mannes war ohnehin nicht viel zu sehen. Es lag im Schatten des breitkrempigen, ebenfalls weißen Hutes. Sein leichter Anzug wirkte nicht nur elegant, sondern sündhaft teuer. Die Weste hatte der Mann zugeknöpft, das Sakko trug er offen. Er hatte sogar den Kragenknopf des weißen Hemdes geschlossen. Und die Krawatte lag fest um den Hals.
»Ist etwas?«, fragte er.
Lag da überhaupt eine Regung in der Stimme? Jesus-Ernesto kratzte sich die Bartstoppeln. »Nein, Señor, natürlich nicht. Ich dachte nur…«
Der Mann machte mit der Hand eine lässige, aber unmissverständliche Bewegung. Jesus-Ernesto zog sich einige Schritte zurück. Gleich darauf hörte er den kurzen Pfiff aus dem Küchenfenster, das Zeichen, dass die Suppe bereitstand.
Jesus-Ernesto servierte. Ein wenig widerwillig wünschte er guten Appetit.
»Gracias.«
Der Kellner nickte nur stumm, verblüfft, dass er überhaupt ein Wort des Dankes erhalten hatte. Er beobachtete weiter aus dem Schatten des Hauseingangs heraus. Und stellte fest, dass der Weißgekleidete weder zu dem Glas mit Wasser, noch zum Löffel griff. Stattdessen starrte er weiter zu Zapopas Restaurant hinüber.
Die Señora war mehrere Jahre im Ausland gewesen. Über die seitdem kursierenden Gerüchte lachte sie nur. Doch es war eine Tatsache, dass sie seit ihrer Rückkehr nach Muna keine privaten Kontakte mehr zu Männern hatte. Sollte der Fremde etwa ihretwegen…?
Drüben auf der anderen Seite tat sich etwas. Jesus-Ernesto hatte nicht gesehen, woher die beiden Heranwachsenden gekommen waren. Aber einer der zwei machte urplötzlich einen Ausfallschritt zur Seite und griff sich die Tasche, die Bransons Begleiter neben seinem Stuhl abgestellt hatte.
Danach ging alles aberwitzig schnell.
Die beiden Jungen rannten in entgegengesetzte Richtungen davon. Bransons Begleiter reagierte zu langsam, weil ihm der Dieb den Ellenbogen gegen den Hals gerammt hatte. Dass Branson etwas aus seiner Weste hervorzerrte, registrierte Jesus-Ernesto nur am Rande. Erst als der Archäologe dieses Ding kurz über den Kopf wirbelte und losließ, wurde ihm klar, dass es sich um eine Bola handelte. Ihre Kugeln wickelten sich um die Beine des Diebes und brachten ihn zu Fall.
In dieser Sekunde wurde Jesus-Ernesto vom Geschehen abgelenkt ‒ weil der Weißgekleidete sich plötzlich erhob und zum Gehen wandte. Ohne zu bezahlen!
»He!« Jesus-Ernesto brauchte nur zwei schnelle Schritte, um zu dem Tisch zu kommen, an dem der Fremde gesessen hatte. Aber dabei stolperte er halb über seine eigenen, halb über die Beine eines abgerückten Stuhls. Er griff um sich in dem vergeblichen Bemühen, seinen Sturz abzufangen. Wenn er dem Weißgekleideten in den Rücken fiel und ihn zu Boden riss, würde das mächtigen Ärger…
Da krachte er auch schon gegen die Schultern des Mannes ‒ aber er spürte keinen Widerstand! Während der Weiße sich umwandte, drang Jesus-Ernesto in dessen Körper ein! Er wollte gellend aufschreien, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fiel durch den Mann in Weiß hindurch, als sei der nichts als ein Trugbild!
Der Aufprall auf dem rauen Betonpflaster schmerzte. Jesus-Ernesto schürfte sich beide Unterarme und die Handballen auf. Taumelnd kam er auf die Beine. Blut tropfte von seinen Fingern
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