01 - Botschaft aus Stein
Preis die verlorene Zeit aufholen.
Endlich stoppte der Grabungsleiter unvermittelt. »Aussteigen! Wir sind da!«
Hier? Tom verbiss sich die Frage. Sie waren fünfeinhalb Kilometer von der Hauptstraße entfernt; er hatte die Tachoanzeige im Auge behalten. Üppiges Grün wucherte ringsum. Vielfältige Vogelstimmen erklangen aus dem Geäst und in der Ferne hörte man das Lärmen von Brüllaffen. Aus dem Boden schien schon die Düsternis der noch fernen Nacht aufzusteigen.
»Wir brauchen keine Macheten, falls Sie das gerade denken, Tom.« Branson lachte leise, während er das Fahrzeug wendete. »Kommen Sie! Der Jeep bleibt immer hier stehen, es gibt keinen anderen Platz.«
»Wir sind allein?« Ericson sah zumindest kein anderes Fahrzeug in der Nähe.
»Habe ich das nicht gesagt? Manche Funde sind so schicksalhaft…«
»Ja?«, fragte Ericson, als der Professor abrupt schwieg.
»Wir sollten die eine oder andere Arbeit nicht an die große Glocke hängen. Sagen Sie mir, Tom, wer außer uns Archäologen… Ach was, warten wir einfach ab.«
»Von welchem Fund reden Sie, Seymor?«
Ein Kopfschütteln war die wenig zufriedenstellende Antwort.
»Es hat mit der Stele auf den Marquesas zu tun?«
»Sie konnten die Zeichen also nicht entziffern?«, fragte Branson interessiert.
»Zwei oder drei ‒ zumindest vage.«
Der Professor schritt kräftig aus. Jeden Baum kannte er, jedes Gebüsch, dem er ausweichen musste. Vermutlich hätte er sein Ziel sogar in völliger Finsternis gefunden.
Urplötzlich waren die Mauerruinen da. Man musste schon nahe genug sein, um sie überhaupt zu bemerken. Ericson fühlte sich auf Anhieb an die spärlichen Reste auf Hiva Oa erinnert, aber letztlich wirkten alle Fundamente gleich.
Der Boden stieg an und wurde zum relativ flachen Hügel, dessen Ausdehnung in dem Dickicht nicht abzuschätzen war. Drei bis vier Meter Gesamthöhe wahrscheinlich; es war also kein Wunder, dass die Anlage lange Zeit unentdeckt geblieben war. Im Dschungel Yucatáns gab es noch Tausende verschüttete Zeugnisse der Vergangenheit, die ihrer Entdeckung harrten.
»Sie haben die leichte Steigung bemerkt.« Branson wurde langsamer. »Unregelmäßige Form, bedeckt eine Fläche von rund dreihundert mal dreihundert Metern. Die höchste Erhebung liegt knapp unter fünf Meter.«
»Satellitenmessungen?«
Branson winkte ab. »Bislang nicht vorgenommen. Wozu auch?«
Satellitenaufnahmen waren längst unverzichtbar. Dass Branson sie ablehnte, warf für Tom einige Fragen auf. Sollte die Anlage unbekannt bleiben?
Zumindest indirekt hatte Seymor das schon zugegeben.
Der Professor ging weiter. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf die an einem Baum lehnenden Vermessungsgeräte. »Hier wird auf gute alte Art gearbeitet. Nichts ist in einem unsicheren Datenspeicher erfasst.«
Wenige Schritte weiter gab es eine Treppe. Der Hügel war schräg angegraben worden, Bohlen sicherten die mehr als mannshohen Seitenwände gegen ein Nachrutschen des Erdreichs. Auch die Stufen waren mit Holz abgedeckt.
Grob geschätzt sechs Meter vor Ericson lag der eigentliche Eingang. Ein aus Quadern errichtetes Steintor rahmte gähnende Schwärze ein. Das Tor wirkte wie ein aufgerissener Rachen. Zwei Friese, oben und unten, trugen armlange spitze Reißzähne.
Wer immer hier eindrang, er lief geradewegs in den Rachen eines Ungeheuers. Sofern er an Ungeheuer glaubte.
***
Das dröhnende Dieselaggregat verpestete die Luft. Allerdings sorgte es für ausreichend Strom, den die großen Scheinwerfer fraßen. Die jähe Lichtfülle blendete die Augen, die sich schon an die herrschende Düsternis und den fahlen Schein der beiden Handlampen gewöhnt hatten.
Ericsons missbilligender Blick blieb nicht unbemerkt.
»Wir befinden uns erst in einer Vorhalle«, sagte Branson. »Der Raum für alles, wenn Sie so wollen. Hier ist nichts Bedeutsames, das durch die Abgase Schaden nehmen könnte.«
Die Wände waren mit Schriftzeichen und Bildern übersät. Als Tom nahe an eines der Reliefs herantrat, glaubte er die Darstellung eines Königspaares zu erkennen, beide beim rituellen Aderlass. Die prunkvolle Kleidung, die sie trugen, war äußerst detailliert herausgearbeitet, doch von außen hereinwachsende Wurzeln hatten das Werk längst gesprengt und rettungslos geschädigt. Dichtes Pilzgeflecht wucherte in den Rissen. Tom sah, dass es von Asseln und Würmern wimmelte.
»Die Anlage ist zum überwiegenden Teil in einem jämmerlichen Zustand«, kommentierte der Professor.
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