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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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1 In einem eisigen Sommer
    A n manchen Abenden betrachtete er sein Leben als eine Abfolge von Schnappschüssen, und auf jedem einzelnen fehlte etwas: er selbst.
    Diese Vorstellung gefiel ihm immer wieder. Er schenkte sich noch einen Calvados ein, schwenkte das Glas vor seiner Nase, trank einen winzigen Schluck und hob den Arm, als proste er jemandem zu.
    Wenn er lange allein im Wohnzimmer saß, fing er an, Grimassen zu schneiden und zu kichern. Das passierte ihm seit einigen Monaten, und es störte ihn nicht. Sogar seine Frau verkniff sich inzwischen ihre Bemerkungen und verschwand wortlos in die Küche. Sie saß dort, er saß hier. Sie trank Apfelsaft, er trank Apfelbranntwein. Sie dachte an das gleiche wie er.
    Seit einem halben Jahr dachten sie in verschiedenen Zimmern an das gleiche. Manchmal redeten sie darüber, später, im Bett, kurz bevor jeder sich auf seine Seite drehte und weiter darüber nachgrübelte, was geschehen war und warum sie es nicht geschafft hatten, die Schmach abzuwenden.
    Sie nannte es Schmach, er nannte es Geschäftsaufgabe. Sie weinte, er weinte nicht. Sie hatte begonnen, Tabletten zu nehmen, er hatte keine neuen Gewohnheiten angenommen, außer zu kichern und einem imaginären Gegenüber zuzuprosten. Sie verstand sein Verhalten nicht, was, wie er wußte, daher kam, daß sie es falsch einschätzte, sie glaubte, er wäre gelassen, beinah gleichgültig.
    Aber es loderte in ihm.
    »Ich hab einen riesigen Scheiternhaufen in mir«, sagte er zu Clarissa.
    »Sind die Knoten zu fest?«
    »Ich rede mit dir.«
    »Du hast einen Scheiterhaufen in dir. Hab ich verstanden.«
    »Keinen Scheiterhaufen, einen Scheiternhaufen.«
    Mit der Spitze ihres rechten Stiefels stieß Clarissa gegen seine nackte Wade. »Du sollst die Beine spreizen.«
    »Ich glaub, es geht heut nicht«, sagte er und zog an den Lederriemen, mit denen er an das Andreaskreuz gefesselt war.
    »Ich hätt heut nicht kommen sollen.«
    »Zu spät. Hörst du das?«
    Er hörte das Zischen der Gerte. Er hörte das vertraute Geräusch, und nichts passierte mit ihm. Und als sie zuschlug, zuckte er zusammen und drehte den Kopf und brachte keinen Ton heraus. Der Schmerz, den sie ihm zufügte, und die Worte, mit denen sie ihn erniedrigte, befeuerten ihn nicht wie sonst, sondern schmerzten und erniedrigten ihn auf eine Weise, die er sofort als beschämend empfand. Wie das Weinen seiner Frau drei Stunden zuvor.
     
    Sie mußte mindestens eine Minute in der Tür gestanden haben, bevor er sie bemerkt hatte. »Gehst du schon?« fragte er und richtete sich, benommen von Gedanken, im Sessel auf.
    Karin antwortete nicht.
    »Was ist?« Er beugte sich vor, sein Bauch wölbte sich über dem Gürtel, und er streckte den Rücken. »Ich schau hernach noch bei Luis rein. Wer kriegt das Geschenk?«
    In der linken Hand hielt sie eine weiße Plastiktüte mit etwas darin, in der rechten ihren blauen Knirps. Seit Anfang Juni regnete es fast ununterbrochen. Es war kalt. Auf den Balkonen ertranken die Geranien in den Blumenkästen.
    Weil sie weiter stumm dastand, schüttelte er den Kopf.
    Dann stemmte er sich mit einem Ruck in die Höhe, warf einen Blick zum Fernseher, in dem ein Fußballspiel ohne Ton lief, und stopfte sich die Vorderseite seines blaßgrünen Hemdes in die Hose. Strumpfsockig schlurfte er durchs Zimmer. An der Tür betrachtete er seine Frau, ihren beigen Popelinemantel, ihre Wollmütze, ihre braunen Schuhe. Sie kam ihm klein und alt vor, ihre Wangen waren bleich und ihre Augen verschwommen.
    »Was ist?« fragte er ein zweites Mal.
    Und da stieß sie diesen Ton aus, der ihn noch eine Stunde später so erschütterte, daß er in einem Anfall von Panik einen Zwanzig-Euro-Schein vor Luis auf den Tresen knallte und, ohne auf das Wechselgeld zu warten und seinen verwunderten Mittrinkern eine Erklärung zu geben, überstürzt das Lokal verließ. Er hatte nur noch ein Ziel vor Augen, den Club Dinah in der Levelingstraße, fünfzehn Minuten von seiner Wohnung und seiner Stammkneipe entfernt. Nichts als die Stimme seiner Frau, bildete er sich ein, trieb ihn dorthin, das Beben in ihrer Stimme, der von Verzweiflung zerrissene Klang ihrer Stimme, ihre ganze trostlose Erscheinung.
    Er sah, wie ihre herunterhängenden Arme schlenkerten. Sie hörte nicht auf zu schluchzen. Ihr Körper schien jede Träne unter Qualen hervorzupressen. Alles an ihr vibrierte und schlotterte, ihr Mantel, ihre Beine, ihre Mütze, ihr Kopf, ihre Schultern, die Plastiktüte, der Schirm. Sie stand

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