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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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bereuen, doch er genoss die Erinnerung an den Abend der Sünde.
    Die kleine Anna war bleich und sah wie die Kinder in den Märchenbüchern aus, die sich im Walde verirrt haben, aber sie weinte nicht. In der Hand hielt sie eine Puppe in einem blauen Samtmantel mit pelzbesetzter Kapuze. Ihr Vater sah die Puppe und musste sich zusammenreißen, um nicht zu stöhnen. Er hatte die Puppe kurz vor dem Krieg in Paris gekauft, allerdings zwei davon. Die von Victoria hieß Madeleine und saß Arm in Arm mit dem Puppenjungen in Feldgrau auf ihrem Bett. Zu Johann Isidors noch größerem Schrecken trug Anna unter ihrem offen stehenden Mantel ein schwarz-rot kariertes Kleid mit weißem Spitzenkragen und Knöpfen in Form von Fliegenpilzen. Auch da hing das Gegenstück in Victorias Schrank. Es war für einen Vater, der ein so ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit hatte wie Johann Isidor, absolut zwingend gewesen, für seine beiden gleichaltrigen Töchter die gleichen Kleider und die gleichen Puppen zu kaufen.
    »Wollen wir gehen?«, fragte Johann Isidor.
    Anna nickte. Er sah, dass ihre Lippen bebten, und griff nach ihrer Hand. Der Weg von Sachsenhausen ins Nordend war weit, besonders für eine Achtjährige, die vor einer Woche den Tod ihrer Mutter erlebt hatte. Es gab aber so gut wie keine Droschken mehr für die Zivilbevölkerung, die Trambahnen fuhren nicht regelmäßig, und die ihm zur Verfügung stehende Zeit war für Johann Isidor zu knapp gewesen, um einen Transport zu organisieren. »Kannst du gut laufen?«, fragte er.
    Noch antwortete das Kind nicht, doch es lächelte bereits. Ihr Vater glaubte, die Augen ihrer Mutter zu erkennen. Oder waren es die von Victoria? Er grämte sich, dass ihm nichts einfiel, um diese fremde Tochter zu trösten, die ihn mit dem Ernst einer Erwachsenen anschaute und die ihre Puppe so fest umklammerte, als könne die sie von allem Kinderleid erlösen.
    Noch mehr grämte sich Johann Isidor, dass er Betsy nachgegeben und nie ein Telefon angeschafft hatte. Sie lehne es ab, hatte sie sich bei jeder Diskussion ereifert, die Kinder mehr als nötig der modernen Technik auszusetzen, und er hatte wie ein Schaf genickt und statt an Telefone an seine Umsätze und Ausgaben gedacht. Nun hatte er die Niete gezogen. Er würde seinen Fehltritt auf die alt-modische Art gestehen müssen – nicht am Telefon mit schützender Maske, sondern von Angesicht zu Angesicht. An der Wohnungstür und mit einem achtjährigen Kind an der Hand! Er war ein Ehebrecher, der den Pranger, an den er sich zu stellen hatte, selbst bauen musste. Der Überführte versuchte, sich den ersten Satz des Dramas vorzustellen, aber ihm fiel noch nicht mal das erste Wort ein.
    Obwohl der Koffer schwer war und er seine Schritte den Kräften einer Achtjährigen anpassen musste, liefen sie von der Textorstraße bis zur Alten Brücke nur eine halbe Stunde. Der Main wurde von einer fahlen Abendsonne bestrahlt. Das Gras am Flussufer war schon grün. Möwen saßen auf Pfählen, Schwäne dümpelten im Wasser. Es gab nicht genug Brot, aber eine alte Frau fütterte sie mit großen Brocken. Der Kohlenschlepper mit dem Hund war immer noch da.
    »Gehen wir da rüber?«, fragte Anna.
    »Ja, du hast doch nicht etwa Angst, ins Wasser zu fallen?«
    »Aber nein. Ich war jeden Freitag in Frankfurt. Die Mutti hat immer in der Schirn eingekauft. Zu Weihnachten ganz viele Puppenwürstchen.«
    »Siehst du, und jetzt kannst du immer in Frankfurt wohnen. Nicht nur am Freitag. Und eines Tages gibt es auch wieder Puppenwürstchen.«
    Sie gingen über die Brücke. Er war erleichtert, dass Anna nicht mehr »Onkel Johann« zu ihm sagte. Das würde den nötigen Erklärungen ein wenig den Stachel nehmen. Es war bestimmt leichter für eine Ehefrau, ihrem Mann eine einmalige Verfehlung zu verzeihen, als die jahrelangen Besuche bei seiner unehelichen Tochter zu akzeptieren. Ein einbeiniger Soldat mit einem Zigarettenstummel im Mund bot winzige, aus hellem Holz geschnitzte Schafe zum Verkauf an.
    Anna zeigte ihrer Puppe die Schafe und flüsterte ihr ins Ohr, sie brauche keine Angst zu haben. Ihr Vater kaufte zwei Stück. Ein Schaf steckte er in seine Manteltasche, das zweite hielt er ihr hin. Sie machte einen kleinen Knicks und sagte prompt: »Oh, danke sehr, Onkel Johann.« Erst auf der Frankfurter Seite des Mains sprach sie wieder. Sie erzählte Johann Isidor, dass ihre Puppe eine Blutvergiftung gehabt hätte, aber zu ihr sei der Doktor sofort gekommen. So brach Anna in der ersten

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