01 Das Haus in der Rothschildallee
letzte Kartoffel mobil.
Wir Deutsche, wir halten es aus.«
Selbst Johann Isidor, der ausschließlich seine Kinder scharf und furchtlos zu kritisieren vermochte und der es sonst eher empfehlenswert fand, diplomatisch die Zunge zu halten, empfand die Zeichnung als geschmacklos und den Vers als »sehr unpassend in einer so schweren Prüfung«. Die deutsche Kartoffel eignete sich tatsächlich nicht mehr zum Objekt der Satire. Sie wurde, als sich die Ernährungslage dramatisch zuspitzte, durch die Kohlrübe ersetzt, mancherorts auch als Steckrübe, Wruke oder Dotsche bekannt.
Kohlrüben galten laut Behördenlatein und den Verfassern von Kochbüchern, die unmöglich das glauben konnten, was sie schrieben, als das Allheilmittel in der deutschen Küche. Sie wurden dem Brotteig zugesetzt und den Kindern als Apfelmus eingeredet, ließen sich zu Gemüse, Suppen und Klößen verarbeiten, wurden gekocht, getrocknet und gedünstet. Zeitschriften, die noch 1915 – zum Zorn der Hausfrauen – Rezepte veröffentlicht hatten, in denen Butter, Schmalz, Sardellen, Safran und Zitrusfrüchte empfohlen wurden, brachten nun Rezepte für Gemüseaufläufe, fleischlose Eintöpfe, Grießklöße, Kinderbrei, Brotaufstrich und Gebäck aus Kohlrüben. Die phantasievollste Namengebung widerfuhr der »Kohlrüben-Bettelmann-Suppe«, aufzukochen mit Kümmelkörnern und Resten von Schwarzbrot, am zynischsten war die Bemerkung, die mit einem guten Schuss Essig gewürzten Kohlrüben würden den Geschmack von erfrorenen Kartoffeln übertünchen.
Für die hungernden Menschen, die laut amtlicher Verfügung pro Tag Anspruch auf fünfunddreißig Gramm Fleisch (einschließlich Knochen), ein Viertel Ei, fünfundzwanzig Gramm Zucker und zweihundertsiebzig Gramm Brot hatten, begann im November 1916 der Kohlrübenwinter.
Wer ihn erlitt, vergaß ihn nie; viele Menschen erholten sich weder physisch noch psychisch von den Folgen der Mangelernährung. Der Kohlrübenwinter wurde Synonym für Not und Hungertod.
Auch Johann Isidor Sternberg sollte ihn für immer in Erinnerung behalten, doch es war nicht sein Magen, der für ihn die Chronik verfasste. Es war sein Herz. Das kaisertreue, opferbereite Herz des Johann Isidor Sternberg brach am 9. November 1916, auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem er erfahren hatte, dass sein achtzehnjähriger Sohn für sein Vaterland gefallen war. Im Oktober 1916 hatte der deutsche Kriegsminister eine statistische Erhebung »zum Anteil der Juden unter den deutschen Soldaten« angeordnet.
Johann Isidor Sternberg, ein Mann mit analytischem Verstand und trotz seines zur Sentimentalität neigenden Naturells ein Leben lang auf der Hut vor Attacken aus dem Hinterhalt, brauchte keine fünf Minuten, um die Sprache der deutschen Bürokratie als eine Diffamierung der Juden zu entlarven. Es bedurfte jedoch nicht zu zählender schlafloser Nächte, bis Johann Isidors verwundete Seele tatsächlich imstande war zu fassen, was das geliebte Kaiserreich seinen jüdischen Bürgern angetan hatte. In den Tagen der ersten Ratlosigkeit und des lähmenden Schmerzes, die der Erkenntnis folgten, bedrückte es Johann Isidor am meisten, dass er nicht über das Messer zu sprechen vermochte, das ihm die Brust aufgerissen hatte. Er konnte seiner Frau nicht in die Augen schauen, ohne dass Zorn sein Gesicht entflammte und Hilflosigkeit seine Zunge austrocknete. Dem Blick seines Sohns wich er aus, als wäre dessen Vater derjenige, der schuldig geworden war. Wenn er allein war, kamen ihm die Tränen.
Endlich, an einem Freitagabend, konnte er sein erniedrigendes Schweigen nicht mehr ertragen. Er vertraute sich Betsy an. Der Tisch war abgedeckt. Es hatte als Sabbatmahl eine Suppe aus Brühwürfeln und für jeden ein Stück gebratene Leberwurst gegeben, die der Hausherr am Vortag bei einem Metzger in der Braubachstraße gegen eine Einmeterborte aus Brüsseler Spitzen eingetauscht hatte. Die Zwillinge hatten sich, einander zuzwinkernd, zurückgezogen, Jettchen las im Nebenzimmer gerade stimmenklar den Reim vor »Piff, paff, ein Gewehr! Der Russe lebt nicht mehr«, und Victoria lachte sehr.
Josepha faltete das weiße Tischtuch. Sie sagte »Gute Nacht« und wünschte an der Tür »Gut Schabbes«, als wäre sie zeitlebens jüdisch gewesen. Die Sabbatkerzen waren fast niedergebrannt, der Hausherr starrte in ihr verlöschendes Licht. Er räusperte sich, wie er es immer getan hatte, wenn er Bedeutsames zu sagen hatte, und prüfte, ob seine Weste richtig geknöpft war. Er
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