012 - Die Sekte des Lichts
ein Schnauben aus. »Nicht wenn ich eine ebene Fläche zur Landung finde. Ein paar Minuten kann ich den Vogel noch in der Luft halten. Leider sind intakte Flugplätze dünn gesät in dieser Zeit…«
***
Rulfans Streiter nannten das Ding
»Götterauge«. Es bestand aus zwei parallel verlaufenden Röhren, war handlang und ein wenig dicker als der Oberschenkelknochen eines großen Mannes. Und es war grau. Ein mattes, sehr dunkles Grau. Etwa wie der Uferschlamm des Großen Flusses. Oder wie Rulfans langes Haar.
Sie nannten es so, weil man damit weit entfernte Menschen, Häuser oder Schiffe so deutlich sehen konnte, als würde man direkt davor stehen.
Rulfan selbst nannte das Ding Binocular.
Fremd klang dieser Name in den Ohren seiner Streiter. So fremd und rätselhaft wie die Namen manch anderer mächtigen Dinge, die Rulfan besaß und benutzte.
Mit dem Götterauge suchte er die Waldränder und bewachsenen Schutthügel der Flusslandschaft ab. »Was siehst du, Rulfan?«, rief Honnes zu dem großen Mann mit dem Götterauge hinauf.
Honnes war ein dürrer kahlköpfiger Mann mit dicken wulstigen Lippen und zerknautschtem Gesicht. Er kämpfte seit vielen Wintern Seite an Seite mit Rulfan gegen die Bruderschaft.
Honnes stand neben Wulf. Seit das Licht des neuen Tages ihn geweckt hatte, kraulte er dem Tier unablässig das weiße Nackenfell. Wulf war ein fast reinrassiger Lupa. Der alte Honnes war der Einzige unter den Streitern, den Wulf so nahe an sich heran ließ. Abgesehen natürlich von Rulfan, seinem Herrn.
Die sechsunddreißig Streiter hockten oder standen im Moos zwischen niedrigen Büschen. Nicht unten im feuchten Waldboden, sondern gut sechzig Schritte darüber im höchsten Raum der T-Feste. So hieß der am besten erhaltene Ruinenkomplex in den Wälder östlich von Coellen auf der rechten Seite des Großen Flusses.
Keiner der Männer hätte erklären können, warum die Ruine so hieß - »T-Feste«. Es war einfach so. Schon ihre Väter und Großväter hatten sie so genannt. Es gab ein mächtiges Reich bei den Alten, pflegte Rulfan zu antworten, wenn man ihn danach fragte, ein Reich, das ein T in seinem Wappen führte. In den Zeiten vor Kristofluu. Die T-Feste war das Machtzentrum dieses Reiches gewesen…
Dicht belaubte Äste strebten zu den Fensteröffnungen herein. Vogelkot hing im Efeu und im Moos, das die Wände überzog wie ein Teppich. Kletterpflanzen rankten sich um die verbogenen Metallstreben, die sich aus den zerborstenen Wänden weit über die Baumwipfel in den dunstigen Morgenhimmel streckten.
Fast ehrfürchtig schauten die sechsunddreißig Streiter zu ihrem Führer hinauf. Rulfan war an den armdicken Ranken des Efeus die Wand hinaufgeklettert. Jetzt hing er zwischen zwei verkrüppelten Birken auf der Mauerkrone der Ruine. Das Götterauge unter seine blauschwarzen Brauen gepresst, blickte er nach Süden hinüber zur Coellen-Burg. »Über vierzig Coelleni-Soldaten außerhalb der Burg«, sagte er. »Fast fünfzig. Sie sind mit Kriegsbogen und Langschwertern bewaffnet.«
»Und die Dysdoorer?«, wollte Juppis wissen. Er war der älteste Streiter, älter sogar als Honnes. Sein langes weißes Haar hatte er zu einem dicken Zopf geflochten. Manche sagten, er hätte schon siebzig Winter gesehen. Wie die meisten Männer der Streitertruppe trug Juppis die dunkelbraune Lederschuppenrüstung der Coelleni-Soldaten. Beute aus zahllosen Überfällen. »Kannst du die Horden der Dysdoorer schon irgendwo ausmachen?«
Rulfan richtete sein Binocular auf den Urwald hinter der Coellen-Burg. Über Baumwipfel und von Gestrüpp eingesponnene Ruinen hinweg wanderte sein Blick zum Ufer des Großen Flusses. Die Horden aus dem weiter nördlich gelegenen Dysdoor wollten im Morgengrauen angreifen. Haynz, ihr Hauptmann, führte sie seit einer Woche in einem weiten östlichen Bogen um die Stadt herum, um diesmal mit Flößen an den Flussgärten von Coellen zu landen.
»Nein«, gab Rulfan zurück. »Keine Spur von ihnen.« Er sprach mit tiefer heiserer Stimme.
Juppis winkte ab. »Wahrscheinlich haben sich die Idioten verlaufen.«
»Oder sind abgesoffen«, krächzte Honnes. Einige der Männer grinsten müde.
Keiner der Streiter hatte übertriebenen Respekt vor den Dysdoorern. Schon gar nicht vor ihren militärischen Fähigkeiten. Ihre Horden waren Chaotenhaufen und ihr Hauptmann ein verfressener Hohlkopf.
Es galt als offenes Geheimnis in den Siedlungen am Großen Fluss, dass Haynz sich nur durch seine sagenhaften Reichtümer
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