02 - Die Nacht der D?monen
Frage war.
»Nein«, antwortete Jessica daher abwesend, während sie in ihrer Tasche nach einem Brief suchte, den einer der Lehrer ihr für ihre Eltern mitgegeben hatte. Sie reichte Anne den Umschlag.
Nachdem ihre Adoptivmutter ihn gelesen hatte, fragte sie: »Wie sind deine Lehrer denn so?«
»Sie sind in Ordnung.«
»Freut mich.«
Wie üblich unterhielten sie sich eher aus obligatorischem Zwang als aus echtem Interesse aneinander. Anne und Jessica hatten schon vor langer Zeit erkannt, dass sie nichts gemeinsam und kaum eine Chance hatten, jemals ein richtiges Gespräch über irgend etwas zu führen. Manchmal kam es vor, dass die eine der anderen tatsächlich zuhörte, aber diese Gelegenheiten endeten meist in einem Streit. Wieder schwiegen sie einen Augenblick.
»Ich gehe dann mal auf mein Zimmer«, verkündete Jessica schließlich. Sie ließ ihren Rucksack auf dem Sofa liegen und schlurfte nach oben in die schummrige Höhle, die sie sich geschaffen hatte.
Die Fenster waren mit schweren, schwarzen Vorhängen verdeckt und die Rollos waren heruntergelassen. Unter dem Saum der Vorhänge drängte sich ein schmaler Lichtstrahl ins Zimmer, aber das war auch schon alles.
Das Bett, das nicht viel mehr als eine Matratze auf einem Rost mit vier Rollen war, stand in einer Ecke. Die Laken und die Decke waren genauso schwarz wie alles andere auf dem Bett, bis auf eine einzige Ausnahme. Eines der Kissen war dunkelviolett und aus imitiertem Wildleder. Anne hatte es vor Jahren für Jessica gekauft, als sie noch geglaubt hatte, sie könne den Geschmack des Mädchens beeinflussen. Außer dem Kissen und Jessicas tiefroter Lavalampe gab es kaum etwas in dem Raum, das nicht schwarz war.
Einzig ihr Laptop und der Drucker zeichneten sich hell vor diesem dunklen Hintergrund ab. Beides stand auf einem Schreibtisch aus schwarzem Holz, daneben eine ganze Reihe verstreuter Disketten. Der Computer gehörte zu den wenigen Dingen, die Jessica etwas bedeuteten. Hier, in ihrer dunklen, selbst erschaffenen Nische, verfasste sie am laufenden Band die Romane, in die sie sich seit ihrem Umzug nach Ramsa zurückzog, um aus der Realität zu flüchten.
Die neunundzwanzig Manuskripte, die sie in den letzten fünf Jahren geschrieben hatte, die Verlagsverträge für zwei ihrer Werke in den braunen Umschlägen und einige Exemplare von Tiger, Tiger zählten ebenfalls zu den wenigen Dingen in dem Zimmer, die nicht schwarz waren.
Es war erst zwei Jahre her, seit sie begonnen hatte, nach einem Verlag zu suchen. Sie konnte kaum glauben, wie sehr sich die Ereignisse seitdem überschlagen hatten. Ihr erstes Buch, Tiger, Tiger, war vor etwa einer Woche unter ihrem Pseudonym Ash Night erschienen. Das Zweite, Dunkle Flamme, lag zurzeit zur Prüfung auf dem Schreibtisch ihrer Lektorin.
Jessica ließ sich aufs Bett fallen und betrachtete die Decke. Manchmal kamen ihr die Ideen zu ihren Büchern, wenn sie so dalag und ins Nichts starrte, aber meist entstanden sie aus ihren Träumen.
Auch wenn sie schrieb, fühlte sie sich wie in einem Traum – und zwar in einem, den ihr waches Ich nicht verstand. Sie wusste nie ganz genau, was in jedem einzelnen der zahlreichen Romane passierte, an denen sie ständig arbeitete. Aber sie hatte sich angewöhnt, die Manuskripte nicht zu lesen, bevor sie beendet waren. Das einzige Mal, als sie dieses Muster durchbrochen hatte, war der Fluss ihrer Worte abrupt abgerissen. Das war dann auch die einzige Geschichte in all der Zeit gewesen, die ihr nicht gefallen hatte. Die meisten Szenen wirkten im Nachhinein gezwungen und unnatürlich. Es war anstrengend gewesen, sie sich auszudenken.
Jessica war sich nicht bewusst, dass sie eindämmerte, bis sie durch Annes Klopfen an ihrer Tür geweckt wurde.
»Jessica?«
»Was ist?«, fragte sie müde.
»Es ist Zeit fürs Abendessen«, verkündete Anne. »Kommst du nach unten?«
Jessica schloss noch einen Moment die Augen, dann stand sie auf und schaltete ihren Computer ein.
»Ich habe keinen Hunger!«, rief sie Anne zu. »Iss ruhig ohne mich.«
»Jessica!«
»Ich esse später«, schnappte sie. Normalerweise hätte sie sich wenigstens mit Anne zum Essen zusammengesetzt, wenn auch nur, um das Trugbild eines Familienlebens zu erhalten. Aber wenn sie in der Stimmung war zu schreiben, überwältigte dieser Drang das Verlangen, mit ihrer Adoptivmutter zurechtzukommen.
4
FÜNF MINUTEN SPÄTER schrieb Jessica
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