02 - Keiner werfe den ersten Stein
erzählt. Wenn deine Geschichte wirklich wahr ist, kann sie am Fenster stehen, bis sie schwarz wird, und er wird doch nie zurückkommen. Er wandelt bestimmt nicht übers Wasser wie der Herr Jesus. Und wenn sie den schönsten Busen der Welt hätte, Gowan Kilbride.«
Mit einem unterdrückten Kichern nahm sie den Kessel vom Herd, und als sie an den Tisch zurückkam, um den Tee aufzugießen, drängte sie sich so nahe an ihm vorbei, daß sein Blut von neuem auf heftigste in Wallung geriet.
Mrs. Gerrards mitgerechnet, waren zehn Tabletts nach oben zu bringen. Mary Agnes war fest entschlossen, sie alle hinaufzutragen und in die Zimmer zu bringen, ohne zu stolpern, ohne einen Tropfen zu verschütten und ohne sich in eine peinliche Situation zu bringen, indem sie etwa einen der Herren beim Anziehen überraschte. Oder Schlimmeres.
Sie hatte ihren ersten Auftritt als Zimmermädchen oft genug geprobt. »Guten Morgen. Ein schöner Tag heute«, würde sie sagen, rasch zum Tisch gehen, das Tablett abstellen und dabei den Blick sorgsam vom Bett abgewandt halten. »Nur für den Fall«, hatte Gowan lachend gemeint.
Sie ging durch die Geschirrkammer, durch das Speisezimmer, dessen Vorhänge noch zugezogen waren, hinaus in die große Eingangshalle von Westerbrae. Hier gab es, wie auf der Treppe gegenüber, keine Teppiche, und die hohen Wände waren mit Eichenholz getäfelt, das im Lauf der Jahre einen dunklen Glanz bekommen hatte. Von der Decke hing ein Lüster aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen Prismen das milde Licht der Lampe auf dem Empfangstisch, die Gowan stets am frühen Morgen einschaltete, einfing und brach. Es roch nach Öl, frischem Holz und Terpentin, Nachwehen der Renovierungsarbeiten, die Francesca Gerrard hatte durchführen lassen, um das Haus als Hotel akzeptabel zu machen.
Überlagert jedoch wurden diese feinen Dünste von einem besonderen Geruch, der noch heute morgen von dem heftigen und unerklärlichen Streit zeugte, der am vergangenen Abend plötzlich aufgeflammt war. Gowan war gerade mit einem Tablett voller Gläser und fünf Flaschen Likör in die Halle getreten, um die Gäste zu bedienen, als Francesca Gerrard schluchzend auf ihren kleinen Salon zugestürmt und in ihrer blinden Hast mit dem Jungen zusammengestoßen war. Gowan war gestürzt, und von dem sorgsam zusammengestellten Getränketablett war nichts übrig geblieben als ein Haufen Scherben und eine Likörlache, die sich von der Salontüre bis zum Empfangstisch unter der Treppe ausbreitete. Gowan hatte fast eine Stunde gebraucht, um die Bescherung zu beseitigen - wobei er jedesmal, wenn Mary Agnes an ihm vorüberkam, mitleidheischend zeterte -, und die ganze Zeit waren irgendwelche Leute schreiend und weinend durch die Halle gerannt, die Treppe hinaufgepoltert und durch die Korridore gelaufen.
Den Grund der ganzen Aufregung hatte Mary Agnes nicht eindeutig zu ergründen vermocht. Sie wußte nur, daß die Schauspielertruppe mit Mrs. Gerrard in den Salon gegangen war, um ein Theaterstück zu lesen, und daß das gesellige Beisammensein innerhalb einer Viertelstunde zum wütenden Streit ausgeartet war, bei dem eine Vitrine mit kostbaren Antiquitäten zu Bruch gegangen war, ganz zu schweigen von der Katastrophe mit dem Likör und dem Kristall.
Mary Agnes ging durch die Halle zur Treppe und stieg vorsichtig die Stufen hinauf, bemüht, ihre Schritte auf dem nackten Holz zu dämpfen. Ein Schlüsselbund, der leise klirrend an ihrer rechten Hüfte hing, gab ihr ein angenehmes Gefühl von Wichtigkeit.
»Erst klopfst du leise«, hatte Mrs. Gerrard sie angewiesen. »Wenn sich nichts rührt, machst du die Tür auf - nimm den Hauptschlüssel, wenn es sein muß - und stellst das Tablett auf den Tisch. Dann machst du die Vorhänge auf und sagst, was für ein schöner Tag es sei.«
»Und wenn der Tag gar nicht schön ist?« hatte Mary Agnes verschmitzt gefragt.
»Dann tu so, als wär er's.«
Mary Agnes erreichte das Ende der Treppe, holte einmal tief Luft und musterte die Reihe geschlossener Türen. Im ersten Zimmer wohnte Lady Helen Clyde; aber obwohl Mary Agnes am Abend beobachtet hatte, daß Lady Helen Gowan beinahe kameradschaftlich beim Aufsammeln der Scherben in der Halle geholfen hatte, fühlte sie sich nicht selbstsicher genug, um ihre morgendliche Runde mit den Teetabletts bei der Tochter eines Grafen zu beginnen. Zu groß war die Gefahr, einen Fehler zu machen. Sie ging also weiter zum zweiten Zimmer, dessen Bewohnerin es wahrscheinlich nicht so
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