02 - Keiner werfe den ersten Stein
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Gowan Kilbride, sechzehn Jahre alt, war nie ein begeisterter Frühaufsteher gewesen. Solange er auf dem Hof seiner Eltern gelebt hatte, war er morgens stets nur unter Murren aus dem Bett gekrochen und hatte jeden in Hörweite durch lautes Stöhnen und vielfältige Klagen wissen lassen, wie wenig dieses bäuerliche Leben seinem Geschmack entsprach. Als daher Francesca Gerrard, die jüngst verwitwete Eigentümerin des größten Landguts der Gegend, beschloß, ihr schottisches Herrenhaus in ein Hotel umzuwandeln, um wenigstens einen Teil der exorbitanten Erbschaftssteuern aufzufangen, bot Gowan ihr sogleich seine Dienste an, überzeugt, genau der richtige Mann zu sein, um bei Tisch zu servieren, an der Bar den Cocktail shaker zu schütteln und die Schar junger Damen im heiratsfähigen Alter zu beaufsichtigen, die sich zweifellos in Bälde als Zimmermädchen oder für den Service bewerben würden.
Leider alles nur schöne Phantasien, wie Gowan bald entdeckte. Noch keine Woche war er auf Westerbrae angestellt, als ihm klar wurde, daß der gesamte Betrieb des neuen Hotels in den Händen einer Vierermannschaft ruhen sollte: Mrs. Gerrard persönlich, einer ältlichen Köchin mit allzu üppigem Haarwuchs auf der Oberlippe, Gowan und einem frisch aus Inverness eingetroffenen siebzehnjährigen Mädchen namens Mary Agnes Campbell.
Gowans Tätigkeit besaß gerade so viel Glanz, wie es seiner Stellung in dieser Hierarchie entsprach - praktisch keinen. Er war »Mädchen für alles«, ob es nun darum ging, den weitläufigen Park in Ordnung zu halten, die Zimmer zu fegen, die Wände zu malern, zweimal wöchentlich den altertümlichen Boiler zu reparieren oder die zukünftigen Gästezimmer zu tapezieren. Sehr ernüchternd für einen jungen Mann, der sich stets als kommender James Bond gesehen hatte! Die Unbilden des Lebens auf Westerbrae wurden einzig gemildert durch die ungemein verlockende Anwesenheit Mary Agnes Campbells.
Nicht einmal mehr das frühe Aufstehen war nach weniger als einem Monat Zusammenarbeit mit Mary Agnes eine Last, denn je eher Gowan morgens aus seinem Bett sprang, desto früher bekam er ja Mary Agnes zu sehen, konnte mit ihr schwatzen und ihren betörenden Duft atmen, wenn sie an ihm vorüberging. Und innerhalb von lachhaften drei Monaten waren alle Träume, in denen er als wodkaschlürfender Held mit einer Vorliebe für maßgefertigte italienische Faustfeuerwaffen fungierte, vergessen; verdrängt von der Hoffnung, ein sonniges Lächeln von Mary Agnes, einen Blick auf ihre hübschen Beine zu erhaschen, in diesem oder jenem engen Korridor im Vorübergehen wie zufällig ihren wohlgerundeten Körper streifen zu können.
All diese qualvollen süßen Hoffnungen waren berechtigt, ihre Erfüllung möglich erschienen, bis gestern die ersten Gäste auf Westerbrae eingetroffen waren: eine Gruppe Schauspieler aus London, die mit ihrem Produzenten, dem Regisseur und mehreren Gefolgsleuten gekommen waren, um einer neuen Produktion in gemeinsamer Arbeit den letzten Schliff zu geben. Das Erscheinen dieser Londoner Theatergrößen in Verbindung mit dem, was Gowan an diesem Morgen in der Bibliothek gefunden hatte, hatte die Erfüllung seiner Träume vollkommenen Glücks mit Mary Agnes schlagartig in weite Ferne gerückt. Darum machte er sich, nachdem er den zerknüllten Bogen Papier mit dem Briefkopf von Westerbrae aus dem Papierkorb in der Bibliothek gezogen hatte, unverzüglich auf die Suche nach Mary Agnes. Er fand sie allein in der großen Küche, wo sie die Tabletts für den Morgentee richtete.
Die Küche war von Anfang an Gowans Lieblingsaufenthalt gewesen, vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Räumen des Hauses nicht in ihrer Eigenart gestört, nicht verändert und durch Renovierung verdorben worden war. Es bestand keine Notwendigkeit, sie dem Geschmack und den Vorlieben zukünftiger Gäste anzupassen. Die würden kaum hier hereinkommen, um eine Soße zu kosten oder über die Qualität des Fleisches zu fachsimpeln.
Die Küche war also unverändert, immer noch genau so, wie Gowan sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Der alte Boden aus mattroten und cremefarbenen Fliesen, wie ein großes glänzendes Schachbrett. An einer Wand unter den eisernen Leuchten, die sich dunkel von der gesprungenen Kachelfläche abhoben, hingen wie eh und je Töpfe und Pfannen aus blitzendem Messing in langer Reihe an den Haken. Auf einem vierstöckigen Regal aus Fichtenholz über einer der Anrichten stapelte
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