02 Winter am Ende der Welt
I
Meine Güte, dieses Pfefferminzshampoo fühlt sich an wie Hallo-Wach auf dem Kopf, ganz besonders wenn man den Schaum in die Augen bekommt. Ich wusste gar nicht, dass es überhaupt Pfefferminzshampoo gibt. Ich kenne Aloe-Vera-Shampoo und natürlich Shampoo mit Kamille oder grünem Tee. Ich benutze normalerweise Orangenblüten-Shampoo. Aber mein Orangenblüten-Shampoo ist alle, schon seit einer Woche, und in dem Laden im Dorf gibt es im Moment überhaupt keine Shampoos mehr, weder mit Kamille noch mit Orangenblüten noch mit grünem Tee, alle Shampoos alle, und der Weg in die Stadt ist weit und die Straße über den Pass vereist, und deswegen brauche ich hier die Shampoos von Anna auf. Alle angefangenen Shampoos, sogar die in den kleinen Packungen.
Anna ist nicht hier, sie ist mit Miguel Moreira in Porto oder Monsanto oder wo auch immer hoffentlich einigermaßen glücklich, und deswegen braucht sie das Haus hier im Moment nicht. Und Anna sagt, es ist gut, wenn das Haus bewohnt ist, wegen Heizen und Lüften und überhaupt, und deswegen darf ich jetzt hier wohnen. Keine Ahnung, wo sie dieses Shampoo her hat, wie kommt man denn an zwanzig kleine Packungen Pfefferminz-Shampoo? Wahrscheinlich sammelt sie diese kleinen Shampoos unterwegs in Motels ein und deponiert sie dann in ihrer Schublade hier im Badezimmer, vermutlich für Notfälle wie diesen. Wenn der einzige Laden im Ort kein Shampoo mehr hat, weil der Laster kaputt ist oder die Straße über den Pass vereist.
Ich versuche das Pfefferminzshampoo aus den Augen zu waschen und frage mich wie jeden Tag, seit ich hier vor einem Monat angekommen bin, was ich hier eigentlich mache. Und ich bin nicht die Einzige, die das fragt.
Alle fragen mich das. Sie wohnen in Portugal und Sie kommen hierher ? Im Winter ?? Und man kann es in ihren Gesichtern deutlich sehen, diese Vermutung, dass ich einen Knacks habe, nicht ganz dicht bin oder nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Und womöglich stimmt das ja auch. Aber vermutlich bin ich nicht mal die Einzige, die hier einen Knacks hat. Denn dies ist der perfekte Ort, um sich von der Welt zurückzuziehen.
Ich dusche, und zwar so richtig heiß, und mag sein, dass hier das Ende der Welt ist, aber die heiße Dusche funktioniert, und zwar richtig gut, und das Wasser hat einen Strahl wie sonst nirgends auf der Welt, weil es mit richtig viel Atü aus der Dusche schießt. Es gibt hier vieles nicht, in diesem Dorf mitten in der Wildnis am Ende der Welt. Es gibt keine Einkaufszentren und kein Kino. Es gibt keinen Handy-Empfang und keine Taxen. Es gibt zwei Tankstellen, aber nicht immer Benzin. Es gibt einen Laden, aber nicht immer Shampoo. Aber Wasser, Wasser gibt es, Wasser gibt es reichlich.
Was also mache ich hier den ganzen Tag? Über mein Leben nachdenken. Auf dem West Bay Trail und auf dem Leiner River Trail spazieren gehen. Und lesen.
Ich sitze mit einem Kaffee vor Annas Bücherregal und stöbere in den Büchern. Ist eine ziemlich wahllose Mischung. Total zusammengewürfelt. Wirkt wie bei der Heilsarmee und im Secondhand-Buchladen zusammengekauft und ist es wahrscheinlich auch. Ein bisschen Kanada-Reise-Lektüre natürlich, die üblichen Reiseführer eben. Ein Buch über Vancouver Island mit Routenvorschlägen und allgemeinen Informationen, außerdem Broschüren über Campbell River, Courtney und Comox. Eine Backroad Map für Vancouver Island mit allen Straßen, Logging Roads und Campingplätzen. Ein Buch mit dem schönen Titel: Camp free in BC, was etwas irreführend ist, weil manche Campingplätze dann doch fünf oder zehn Dollar kosten. Und ziemlich viele Angelbücher, von Lachsangeln über Fliegenfischen bis hin zu Lebendködern. Diese Bücher sind bestimmt noch von Jan, der ist hier immer zum Angeln hergekommen. Und ein paar Bücher übers Schreiben. So wie das hier, von Leigh Michaels, Writing Romance . Ich blättere in dem Buch und mein Blick bleibt an einem Satz hängen.
The heroine tames the hero, civilizes him, and helps him to embrace his softer and more vulnerable side.
Das heißt auf Deutsch soviel wie: die Heldin zähmt den Helden, zivilisiert ihn und hilft ihm, seine weiche und verletzliche Seite anzunehmen.
Tja und das ist der Punkt, wo ich offensichtlich versagt habe, denn sonst säße ich ja jetzt nicht hier. Hier in diesem blauen Flusshaus am Ende der Welt. Nichts gegen das Haus, es ist ein hübsches Haus, mit Blick auf den Fluss, aber trotzdem. Am Rande von Kanada. Mitten im Winter. Wobei die
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