023 - Im Zeichen des Boesen
konnte und seine geheimsten Regungen kannte. »Für mich ist alles – noch neu«, sagte er stockend.
»Wahrscheinlich bin ich wirklich sensibel und brauche einige Zeit, um mich an die neue Situation zu gewöhnen.«
»Das scheint mir auch«, sagte die Gräfin spöttisch. »Aber warum weichst du mir aus? Ich habe dich etwas gefragt.«
»Ich weiß«, sagte Dorian und leckte über seine Lippen. Er merkte, daß alle Blicke auf ihm ruhten, spürte den Spott, den Hohn und sogar Haß.
»Ich habe – mich mit unserer Vergangenheit beschäftigt. Ich habe alte Dokumente über Hexenjagden gesammelt und studiert. Vielleicht kann ich mein Wissen dafür einsetzen, daß wir nicht die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit begehen.«
In diesem Augenblick erkannte Dorian, daß seine leidenschaftliche Beschäftigung mit dem Dämonischen und anderen Erscheinungen tatsächlich für ihn wertvoll sein konnte, aber auf eine andere Art und Weise, als er glaubhaft machen wollte – nämlich im Kampf gegen diese Hexenbrut. Nachdem er sich mit der Existenz dieser überirdischen Geschöpfe abgefunden hatte, gewann er seine Sicherheit zurück. Die Furcht schlug in kalte Entschlossenheit um. Er mußte nur aufpassen, daß er sich nicht verriet. Er würde alles tun, um diese eine Nacht zu überleben und sich und Lilian zu retten. Nur diese eine Nacht mußte er überstehen.
»Hört ihr es?« fragte die Gräfin. »Der Fürst und seine Begleiter nahen. Aus aller Welt kommen unsere Freunde, um an unserem Fest teilzunehmen. Bald werden sie hier sein.«
Die Männer am Tisch, von denen die meisten jetzt ihre Verwandlung vollzogen hatten und nur noch entfernt menschenähnlich aussahen, nickten zu den Worten der Gräfin. Es klang schaurig, als sie im Chor sagten: »Wir hören sie. Wir fühlen ihre Nähe.«
Die Kerzen begannen wild zu flackern, und die Schatten in den Winkeln schienen zu rasen. In dem uralten Gemäuer erhob sich ein Wehklagen, das Dorian durch Mark und Bein ging.
Das war der Beginn des Hexensabbats. Aus den alten Berichten wußte er, zu welchen Ausschreitungen es dabei kam. Er konnte die Nacht nicht mehr abwarten. Wenn er Lilian retten wollte, dann mußte er sofort flüchten. Er durfte keine Sekunde länger warten, sondern mußte fliehen, bevor die anderen Schreckgestalten eintrafen.
Dorian erhob sich.
»Ich muß mich für einen Augenblick entschuldigen«, sagte er lahm. »Ich will nur etwas von meinem Zimmer holen, das ich euch nicht vorenthalten möchte.«
»Beschreibe mir den Gegenstand!« schlug die Gräfin vor. »Es kostet mich keine Anstrengung, ihn hier erscheinen zu lassen, und du könntest dir den Weg ersparen.«
»Ich möchte ihn lieber selbst holen.«
»Dann geh!« keifte die Gräfin unbeherrscht und warf ihm einen zornigen Blick zu.
Dorian war wie gelähmt. Er wußte plötzlich, daß die Hexe seine Absicht durchschaut hatte. Aber warum ließ sie ihn dann trotzdem gehen? Wußte sie, daß er ihr nicht entkommen konnte?
Er wandte sich vom Tisch ab und schritt auf steifen Beinen, die ihm plötzlich so schwer wurden, als seien sie mit Blei gefüllt, aus dem Raum.
Hinter sich hörte er die Gräfin sagen: »Kommt, meine Freunde! Kommt! Bald sind wir vollzählig. Eure Brüder in der Ahnengruft erheben sich aus ihren Gräbern und lassen sich von ihrem untrüglichen Instinkt zur Quelle führen, aus der unverdünntes Menschenblut sprudelt. Kommt und seht euch das Schauspiel an, das ein Abtrünniger euch bietet! Nehmt an seiner Verzweiflung Anteil, weidet euch an seiner Angst!«
Dorian wußte, daß diese Worte der Gräfin ihm galten. Er wollte seinen Schritt beschleunigen, aber da war irgend etwas, das ihm die Kraft aus dem Körper sog. Jede Bewegung kostete ihn unsägliche Anstrengung, und seine Sinne waren plötzlich wie umnebelt. Er verlor die Orientierung, wußte nicht mehr, wo er sich befand, und stolperte über einen Schatten, der schwärzer war als die Finsternis, die ihn umgab. Als er sich wieder aufraffte, vernahm er von allen Seiten höhnisches Gelächter. Unter Schmerzen setzte er einen Fuß vor den anderen und krachte schließlich der Länge nach auf die Treppe. Diesmal versuchte er gar nicht erst, wieder auf die Beine zu kommen, sondern kroch auf allen vieren die Treppe hinauf. Dabei griffen seine Hände in etwas Schleimiges. Er schrie angeekelt auf und wurde von dem gespenstischen Gelächter verhöhnt.
Ich schaffe es, sagte er sich. Wäre nicht die Angst um Lilian gewesen, hätte er schon längst resigniert
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