0230 - Im Land der Unheils
verstand. Schon unter normalen Umständen wäre es ein unberechenbares Risiko, sich durch das Labyrinth aus Fäden zu bewegen. Mit einem blinden Mann, der wie ein Kind geführt werden mußte, war es beinahe unmöglich.
***
Eben war das Zimmer noch dunkel gewesen. Jetzt erfüllte ein sanftes, rötliches Glühen den kleinen Raum. Es kam aus keiner bestimmten Quelle, sondern schien einfach in der Luft zu entstehen, wie ein wabernder Schirm, der das Wesen, das hoch aufgerichtet neben dem Tisch stand, einhüllte. Das Licht steigerte seine Intensität, wurde orangerot, gelb, schließlich weiß, bis es eine Intensität erreicht hatte, die jeden menschlichen Betrachter sofort hätte erblinden lassen.
Als es erlosch, war der Platz neben dem Tisch leer.
Aber auf dem Spielfeld stand jetzt eine vierte Figur…
***
»Wir teilen uns«, sagte Zamorra bestimmt. »Du und Bill, ihr geht links herum. Ich versuche es auf der anderen Seite. Auf diese Weise kommt wenigstens einer von uns durch.«
Nicole antwortete wieder nicht. Keinem von ihnen gefiel die Idee, durch das Labyrinth der klebrigen Spinnfäden gehen zu wollen. Dié scheinbare Grobschlächtigkeit des Ungeheuers täuschte. Die Bestie reagierte bereits auf die geringste Erschütterung ihres Netzes.
Zamorra warf dem Monster einen letzten, fast furchtsamen Blick zu und wandte sich dann an Bill. Der Amerikaner stand hinter Nicole, die ausgestreckte Rechte auf ihrer Schulter. Er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Der Zusammenbruch war heftig gewesen, aber kurz.
»Paß genau auf, Bill«, sagte Zamorra eindringlich. »Du mußt dich hundertprozentig nach Nicoles Anweisungen richten. Wenn ihr das Netz auch nur anhaucht, greift euch das Biest an.«
Bill nickte. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Er schluckte, drehte den Kopf und starrte aus weit aufgerissenen Augen an Zamorra vorbei ins Leere.
»Laßt euch Zeit«, sagte Zamorra mahnend. »Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Hauptsache, ihr weckt das Vieh nicht.«
»Und wenn… doch?« fragte Nicole zögernd.
Zamorra schwieg einen Moment. »Falls es geschieht, dann lauft, so schnell ihr könnt«, sagte er nach einer Weile. »Veilleicht gelingt es mir, das Biest abzulenken. Aber es darf nicht geschehen. Und jetzt geht.«
Nicole starrte ihn einen Moment lang aus schreckhaft aufgerissenen Augen an, wandte sich dann abrupt um und ging langsam los. Zamorra verfolgte ihre Bewegungen mit gemischten Gefühlen. Nicole war vorsichtig, und die ersten Meter waren noch nicht allzu schwierig. Danach verdichtete sich das Netz, bis es etwa in der Mitte der Halle zu einem nahezu undurchdringlichen Geflecht wurde. Jemand, der geschickt und vorsichtig genug war, vermochte sich vielleicht zwischen den Lücken hindurchzuzwängen. Aber ein Blinder?
Zamorra blinzelte noch einmal zu dem Spinnenungeheuer hinauf, packte sein Schwert fester und ging in der entgegengesetzten Richtung los. Während Nicole und Bill sich an der linken Wand der kreisförmigen Halle hielten, ging er an der rechten Seite entlang. Er bewegte sich absichtlich langsamer, als notwendig gewesen wäre, um mit den beiden anderen auf gleicher Höhe zu bleiben. Sein Blick irrte immer wieder zu dem aufgedunsenen Leib des Ungeheuers hinauf. Die Spinne verfolgte jede ihrer Bewegungen aus ihren großen, starren Augen. Aber sie griff nicht an. Ihre Jagdinstinkte schienen einzig durch eine Erschütterung des Netzes geweckt zu werden.
Zamorra stieg vorsichtig über einen schräg aus der Wand wachsenden Spinnenfaden hinweg, duckte sich unter einem zweiten Tau durch und wartete mit angehaltenem Atem, bis Nicole und Bill die Bewegung auf der anderen Seite der Halle nachvollzogen hatten. Das Netz war absolut symmetrisch. Jedes Hindernis, auf das er traf, würde sich auch den beiden anderen in den Weg stellen.
Zamorra beobachtete, wie sich Nicole auf Hände und Knie niederließ und vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, unter einem lose durchhängenden Faden hindurchkroch. Bill wartete mittlerweile reglos zusammengekauert darauf, daß sie das Hindernis überwand und ihm Anweisungen geben konnte.
»Jetzt, Bill«, flüsterte sie, nachdem sie hindurch war und sich auf der anderen Seite wieder aufgerichtet hatte. »Du mußt ganz flach über den Boden kriechen. Und gib auf die rechte Seite acht. Dort ist ein Faden.«
Fleming hielt sich erstaunlich gut. Er kroch langsam und wartete jedesmal auf Nicoles Anweisungen, bevor er eine Hand oder ein Knie vom Boden löste.
Er schaffte es
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