0243 - Asyl der Gespenster
Denn einige Sekunden später hatte Ullich die Ente auf dem Grünstreifen zum Stehen gebracht.
Im gleichen Augenblick hatte sich Carsten Möbius den Sanitätskasten vom Rücksitz geangelt und sprang hinaus. Er hatte bei der Bundeswehr in einer Sanitätseinheit gedient und wußte, was zu tun war.
»Hier ist nichts!« hörte Michael Ullich die Stimme des Freundes durch den Nebel. »Die Gestalt muß doch hier irgendwo liegen… aber es ist nichts zu finden!«
»Am Wagen sind auch keine Spuren eines Zusammenpralls!« erklärte Ullich nach kurzer Überprüfung.
»Das gibt es nicht!« erklärte Carsten kategorisch. »Da war die Gestalt eines Menschen. Ich habe sie genau gesehen. Und die muß hier irgendwo liegen. Wir müssen sie suchen. Vielleicht hat sie einen Schock erlitten und ist in Ohnmacht gefallen…«
Seine Worte wurden durch ein klagendes Heulen unterbrochen. Hohl hallte es durch den Nebel.
»Das kommt aus der Richtung, wo die Karre steht!« rief Ullich. »Da will uns einer die Ente klauen!«
»Los Micha!« kommandierte Carsten. »Das müssen wir verhindern. Sonst müssen wir bis zum Ort laufen. Und für mich ist Laufen…«
Das »… gesundheitsschädlich«, das Carsten Möbius in diesem Fall grundsätzlich benutzte, hörte der passionierte Langstreckenläufer Michael Ullich schon nicht mehr. Mit weiten, raumgreifenden Sprüngen rannte er in Richtung Wagen. Und dann prallte er zurück.
Die Gestalt war schneller gewesen. Sie hatte schon die Tür der Ente geöffnet. Und es hatte nicht den Anschein, als ob sie sich so einfach vertreiben ließ.
Michaels Nackenhärchen begannen sich ganz langsam zu sträuben als er sah, was für ein Gegner sich ihm hier in den Weg stellte. Sicher, es waren die Konturen eines Menschen. Eine Frauengestalt in einem langen, wallenden Gewand, wie sie im Mittelalter getragen wurden.
Aber der ganze Körper war durchsichtig. Wie der Nebel, aus dem er zu stammen schien.
»Wer ist das?« fragte Carsten Möbius durch den Nebel.
»Ein Gespenst!« krächzte Ullich trocken.
***
Das graue Gemäuer von Pembroke-Castle wirkte auf Jeremy Smither beängstigend. Seit er den Wagen in Nettlecombe abgestellt hatte, fühlte er sich noch unsicherer. Er mußte allen Mut zusammennehmen, um den Fußweg zur Burg emporzusteigen.
Hohl hallten seine Schritte über die heruntergelassene Zugbrücke des Burggrabens. Das stehende Gewässer, das dieses alte Gemäuer umgab, war fast vollständig mit Seerosen und anderen Wasserpflanzen bedeckt. Wie Speere stachen lange Schilfrohre an den Uferrändern hervor. Quakend stieg der Chor der Frösche zum Himmel.
Immer größer wurde vor dem Versicherungs-Agenten das mächtige Tor. Die nach unten zeigenden Spitzen des hochgezogenen Fallgatters wirkten wie der aufgerissene Rachen eines titanischen Haies.
Was dahinter lag, war im Dunkel der aufkommenden Dämmerung nicht zu erkennen.
Für Jeremy Smither war es wie das Tor, das die Welt der Lebendigen von den Gefilden der Schatten trennt.
»Es ist nichts! Es ist gar nichts!« redete er sich mit leiser Stimme selbst zu. »Alle englischen Burgen sind unheimliche Gemäuer. Zeige dir selbst, daß du ein Mann bist… !«
Langsam schritt er voran. Wie ein Blinder sich vortastet, so griff seine rechte Hand in die Dunkelheit, die hinter dem Tor mit dem Fallgatter begann. Er wollte genau wissen, ob vor ihm der Weg frei war.
So übertrat seine Hand die Grenze, die um Pembroke-Castle gelegt war. Die Grenze des Unheimlichen. Die unsichtbare Barriere, die geschaffen wurde, um den Schloßgeistern zu verwehren, mit der Bevölkerung der Umgebung Schabernack zu treiben.
Innerhalb von Pembroke-Castle jedoch konnten sie tun, was ihnen beliebte, sofern sie den Herrn des Schlosses nicht störten.
Der Earl of Pembroke wußte selbst nicht mehr genau, wieviele Gespenster aus allen Teilen des Landes hier ihr Wesen trieben. Wichtig war nur, daß ihn alle respektierten. Und das taten sie auch.
Die meisten Gespenster konnten sich sogar recht nützlich machen. Sir Archibald hatte das festgestellt, als ihm nach und nach das Personal desertierte. Niemand wollte es in der Spukburg aushalten. Doch dem Earl kam das ganz recht. Er verfügte nicht über die Gelder, die ihm ein standesgemäßes Leben ermöglichten. Daher war es ganz praktisch, daß die Gespenster alle Arbeiten übernahmen, die vorher von der Dienerschaft erledigt wurden. Gespenster brauchten keine Ruhepause, kannten keine Feiertage und - was das Wichtigste war, sie forderten
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