037 - Die seltsame Gräfin
grimmig. »Und wenn sie sich nicht am Chester Square eingefunden hätte und Sie hätten sie dort erwartet, dann hätten Sie wissen wollen, wo man sie hingebracht hat.«
Der Wagen fuhr vor dem Haus Nr. 307 vor. Dorn stieg aus und drückte auf die Klingel. Aber es meldete sich niemand. Er läutete noch einmal und klopfte dann - aber es kam immer noch keine Antwort. Als er wieder aus der Vorhalle heraustrat und zu den Fenstern hinaufsah, wurde ein Schiebefenster in die Höhe gezogen, und ein zerzauster Kopf zeigte sich oben. Es war Lord Moron, der anscheinend in dem Geschoß schlief, das sonst dem Dienstpersonal überlassen war.
»Hallo - was gibt es?«
»Wollen Sie herunterkommen?« rief Michael.
Sie warteten lange, bevor sich die Tür öffnete, aber dann war eine weitere Erklärung für die Verzögerung nicht mehr notwendig, denn neben Selwyn stand die Gräfin in der Halle. Sie war in einen Mantel gehüllt, und ihre majestätische Erscheinung bot ein imposantes Bild.
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»Was soll das bedeuten?« fragte sie.
»Ich komme wegen Miss Reddle«, erwiderte Dorn kurz.
»Sie ist nicht hier, sie ist außerhalb des Bereichs Ihrer Rachsucht.«
»Wo ist sie?«
»Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft, nachdem Sie sich letzte Nacht so nichtswürdig betragen haben und das arme unschuldige Kind festnehmen ließen.«
»Sie können sich Ihre Worte schenken, Lady Moron«, sagte Michael wild. »Niemand weiß besser als Sie, warum sie festgenommen wurde. Wo ist sie?«
»Ich habe sie zu einem Freund geschickt.«
»Die Adresse?«
»Sie sind ein sehr draufgängerischer junger Mann«, sagte die Gräfin beinahe vergnügt. »Wollen Sie in die Bibliothek kommen?
Ich kann in dieser zugigen Halle nicht mit Ihnen sprechen. Sie haben Miss Smith mitgebracht? Sie soll auch hereinkommen.«
»Sie ist draußen in größerer Sicherheit«, sagte er kühl und ging durch die Halle.
Während dieser ganzen Zeit hatte Selwyn nichts gesagt, aber jetzt wandte er sich an seine Mutter.
»Wo ist Miss Reddle? Vielleicht sagst du es mir?«
»Ich werde dir nichts sagen«, antwortete sie eisig. »Du gehst jetzt in dein Zimmer zurück.«
»Ich will mich schlagen lassen, wenn ich jetzt in mein Zimmer zurückgehe«, protestierte Lord Moron. »Hier geht irgend etwas Verdächtiges vor, und ich wünsche zu wissen, was hier gespielt wird.«
Es war eine heldenhafte Rede für Selwyn, und Michael fühlte eine leise Bewunderung für ihn, denn er wußte, wieviel Mut dazu gehörte, dieser Frau zu trotzen. Sogar die Gräfin war bestürzt.
»Selwyn«, sagte sie milder, »in diesem Ton verkehrt man nicht mit seiner Mutter.«
»Das kümmert mich sehr wenig«, gab er trotzig zurück. »Es ist irgend etwas verdächtig hier - ich habe immer gesagt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Was ist mit Miss Reddle?«
»Sie ist bei Freunden auf dem Lande«, sagte Lady Moron.
Die Antwort schien seinen Widerstand zu brechen.
»Nun gut«, meinte er freundlicher. Er schaute durch die offene Tür auf Lizzy, lächelte und winkte ihr mit der Hand, sah dann zurück auf seine Mutter, nahm all seinen Mut zusammen und ging in seinem Pyjama und seinem Schlafrock die Treppe hinab, um mit dem Mädchen zu sprechen.
»Sind Sie zufrieden, Mr. Dorn?«
»Ich bin weit davon entfernt, zufrieden zu sein, Lady Moron«, erwiderte Michael, während er ihr in die Bibliothek folgte.
Er bemerkte den Flecken auf dem Teppich, wo das Wasser auf Braime geschüttet worden war, und sah, daß auch ihre Augen an dieser Stelle hafteten.
»Es gibt keinen Grund, warum wir uns streiten sollten, Mr. Dorn«, sagte sie fast liebenswürdig. »Was haben Sie mit Miss Reddle vor? Das arme Mädchen war ganz außer sich in der letzten Nacht. Ich habe sie aus Mitleid aufs Land geschickt.«
»Wer hat sie fortgebracht?«
»Mein Chauffeur.« Sein scharfer Blick ruhte auf ihr, aber sie hielt ihm stand.
»War es nicht Mr. Chesney Praye?«
»Mr. Praye ist seit einigen Tagen in Paris. Sie glaubten etwas Außerordentliches entdeckt zu haben, aber hinter den Unglücksfällen, die sich hier ereignet haben, steckt wirklich kein Geheimnis. Ich habe Miss Reddle doch nur engagiert, weil ich den Wunsch hatte, ein nettes, liebes Mädchen um mich zu haben.« Dann fuhr sie fort:
»Geht es Braime besser?«
»Sergeant Braime hat sich gut erholt«, erwiderte Michael und sah, daß er sie mit dieser Bemerkung schwer getroffen hatte. Sie zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, und ihre Stimme verlor alle
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