037 - Die seltsame Gräfin
erklärte der Direktor. »Ich dachte, Sie würden es vielleicht gern einmal sehen.«
Lois war von Mitleid erfüllt, und ihr Herz lehnte sich gegen das Gesetz auf, das diese Frauen zu anonymen Nummern erniedrigte. Die einfachen Kattunkleider und die weißen Hauben erschienen ihr häßlich, und dieser Anblick stimmte sie traurig. Kummer und namenlose Furcht packten sie. Jedes Alter war hier vertreten, sie sah junge Mädchen und alte, verstockte Frauen. Auf jedem Gesicht las Lois den unleugbaren Stempel des Ungewöhnlichen. Als sich dieser gespenstische Kreis langsam an ihr vorüberbewegte, sah sie wilde und schlaue, aber auch ermattete und in ihrem Kummer ergreifende Gesichter. Trübe Augen starrten gedankenlos vor sich hin, dunkle Augen blitzten boshaft auf, sorglose Blicke streiften Lois oberflächlich. Die sich vorwärts schiebenden Frauen erschienen ihr unheimlich und unwirklich.
Beinahe der ganze gräßliche Kreis war an ihr vorübergegangen, als sie eine große stattliche Gestalt wahrnahm, die nicht in diese grauenvolle Umgebung zu gehören schien. Die Frau ging aufrecht, mit erhobenem Kopf, und ihre ruhigen Augen sahen geradeaus. Sie mochte zwischen Vierzig und Fünfzig sein. Ihre feingeschnittenen Züge waren nicht gefurcht, aber ihr Haar war weiß. Eine göttliche Ruhe strahlte von ihr aus.
»Was tut denn diese Frau hier?« fragte Lois, bevor sie sich bewußt wurde, daß sie eine Frage gestellt hatte, die kein Besucher an einen Gefängnisbeamten richten darf.
Direktor Stannard antwortete ihr nicht. Er beobachtete die Gestalt auch, als sie näher kam. Einen Augenblick ruhten die Augen der Frau ernst auf dem jungen Mädchen, aber nur eine Sekunde lang, so lange, wie eine Frau von Haltung das Gesicht einer Fremden anschauen würde. Dann war sie vorübergegangen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie gefragt habe«, sagte sie, als sie an der Seite des Direktors durch das Gitter in sein Büro ging.
»Schon viele haben dieselbe Frage gestellt«, entgegnete er, »und haben auch keine Antwort erhalten. Es verstößt gegen die Gefängnisregeln, den Namen irgendeiner Gefangenen zu verraten. Das wissen Sie wohl. Aber merkwürdig -«
Er schaute sich um und nahm ein aufgeschlagenes Buch von einem Seitenbrett herunter. Es war ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr das Buch. Sie las den Titel: »Fawleys Kriminalfälle.«
»Mary Pinder«, sagte er kurz, und sie entdeckte, daß das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo das Kapitel mit diesem Namen begann. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade, bevor Sie kamen, den Fall nachgelesen habe. Ich bin alle Einzelheiten durchgegangen, um zu sehen, ob mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich ebenso verwundert über diese Frau bin wie Sie.« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme, als ob er irgendwelche Horcher fürchtete.
Sie schaute wieder auf die Überschrift: »Mary Pinder. Begangenes Verbrechen: Mord.« Sie war sehr erstaunt.
»Eine Mörderin?« fragte sie ungläubig.
Der Direktor nickte.
»Aber das ist doch unmöglich!«
»Lesen Sie den Fall.«
Sie schaute in das Buch:
Mary Pinder - verurteilt wegen Mordes vor dem Schwurgericht zu Hereford. Das Urteil lautete auf Tod, wurde später aber in zwanzigjährige Kerkerstrafe umgewandelt. Hier haben wir den typischen Fall eines Raubmordes. Die Pinder lebte mit einem jungen Mann zusammen, der allem Anschein nach ihr Gatte war. Dieser verschwand einige Zeit vor dem Verbrechen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mittel zurückließ. Ihre Wirtin, Mrs. Curtain, war eine reiche Witwe, deren exzentrische Launen beinahe an Geisteskrankheit grenzten. Sie verwahrte große Summen und viel alten Schmuck in ihrem Haus. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, annoncierte die Pinder um eine Stellung. Eine Frau, die sie in dem Haus aufsuchen wollte, fand die Haustür geöffnet. Nachdem sie verschiedentlich geklopft und keine Antwort erhalten hatte, trat sie ein. Sie bemerkte, daß eine der Zimmertüren offenstand, und als sie in den Raum schaute, sah sie zu ihrem größten Schrecken, daß Mrs. Curtain auf dem Boden lag und anscheinend einen Anfall hatte. Sie eilte sofort zu einem Polizisten, der aber nur feststellen konnte, daß die Frau tot war. Die Schubladen eines alten Sekretärs waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut; auch ein Schmuckstück war darunter. Da man Verdacht hatte, wurde das Zimmer der Mieterin, die das Haus kurz vor der
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