04 - komplett
davor zurück. Allerdings war es ihre Pflicht, Carltons Verlobte in der Gesellschaft bekannt zu machen. Ihr blieb nichts anderes übrig, selbst wenn sie dabei ihre Gesundheit aufs Spiel setzen sollte.
Cassandra war sofort die Mattigkeit ihrer Gastgeberin aufgefallen, ebenso die leicht herabgezogenen Mundwinkel sowie die blasse Gesichtsfarbe, die gewiss auf fehlende Bewegung und Mangel an frischer Luft zurückzuführen war.
„Es tut mir so leid zu hören, dass Sie sich unwohl fühlten, Mylady“, sagte sie. „Wie freundlich von Ihnen, uns dennoch einzuladen. Ich hoffe wirklich sehr, wir werden Ihnen nicht zu viel Mühe machen.“
„Nein, nein, gewiss können Sie nicht die geringste Mühe für mich sein. Wie oft hatte ich mir eine Tochter gewünscht. Nun darf ich mir einbilden, nicht nur eine, sondern gleich zwei Töchter gewonnen zu haben.“
„Schön gesagt, Mama“, meinte Vincent trocken. „Lassen Sie mich Ihnen versichern, Miss Thornton, Sie wurden voller Ungeduld erwartet.“
„Verzeihen Sie unsere späte Ankunft. Wir wurden für eine Stunde oder sogar länger aufgehalten, nicht wahr, Sarah?“
„Es war so schrecklich“, erzählte Sarah, wobei sie ganz ihre Zurückhaltung vergaß.
„Wir trafen während der Reise auf eine Gruppe von Zigeunern, und eine der Frauen war der Ohnmacht nahe. Cassie bestand darauf, dass die Kutsche hielt, und dann nahmen wir sie mit uns ...“
„Ihr habt eine Zigeunerin mitgenommen?“, rief Lady Longbourne entsetzt. „Aber sie hätte Flöhe haben können oder eine ansteckende Krankheit oder ... weiß der Himmel was!“
„Bitte sorgen Sie sich nicht, Mylady“, beruhigte Cassie sie. „Sie erwartete ein Kind, und die Geburt stand offensichtlich dicht bevor. Wie sie uns sagte, versuchte sie, ein Lager zu erreichen, wo die weisen Frauen ihres Stammes sich um sie kümmern würden, und ...“
Lady Longbourne schnappte hörbar nach Luft. „Meine liebe Cassandra“, unterbrach sie ihren Gast mit vor Entsetzen gesenkter Stimme. „Sie dürfen wirklich nicht so offen über solche Dinge sprechen. Besonders nicht in der Gegenwart von Herren.
Man wird Sie für leichtfertig halten ... oder Schlimmeres.“
„Oje.“ Cassie unterdrückte ein Lächeln. „Ich wollte Sie nicht verärgern, Mylady. Bitte setzen Sie sich doch. Sie sehen ganz schwach aus. Verzeihen Sie mir bitte meine schlechten Manieren. Ich fürchte, ich weiß nicht genau, wie man sich in guter Gesellschaft benimmt. Mein einziger Gedanke war, dass ich die arme Frau nicht einfach dort auf der Erde liegen lassen konnte und ...“ Sie warf Lord Carlton einen verstohlenen Blick zu und erkannte, dass er, weit davon entfernt, schockiert zu sein, ein Lächeln zu unterdrücken versuchte. „Ich versichere Ihnen, dass wir kein Leid davongetragen haben. Nur konnte ich sie nicht einfach im Stich lassen.“
„Nein, das wäre wirklich sehr unfreundlich von Ihnen gewesen“, stimmte Vincent ihr zu. Der nachsichtige Blick, den er seiner Mutter zuwarf, zeigte Cassie, dass er in dieser Hinsicht glücklicherweise nicht so strenge Ansichten hegte wie sie.
„Vielen Dank, Mylord. Trotzdem denke ich, die arme Sarah wird sich bereits nach einem heißen Bad sehnen“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. „Nur für den Fall, dass die bedauernswerte Frau doch Flöhe hatte.“
Vincent lachte. Sein Lachen klang tief und ein wenig heiser, aufregend und gleichzeitig so ansteckend. Cassandra lächelte. Doch Lady Longbourne teilte die Belustigung ihres Sohnes offenbar nicht. Demonstrativ kehrte sie ihm den Rücken zu und wandte sich freundlich an Sarah, um ihr mitzuteilen, dass sauberes Wasser in ihrem Zimmer bereitstand.
„Ich werde Mrs. Midge bitten, Sie gleich nach oben zu begleiten. Ich kann so gut verstehen, wie sehr die Begegnung Sie aufgebracht haben muss. Nach einem schönen Bad werden Sie sich gleich besser fühlen. Sobald Sie glauben, fertig zu sein, kommen Sie beide wieder zum Tee herunter. Sie müssen ja vor Hunger sterben, da Sie Ihr Mittagsmahl verpasst haben.“
„Oh, wir waren gut vorbereitet“, meinte Cassie munter. „Janet reist nie ohne einen Korb mit Proviant, da, wie sie sagt, man nie weiß, was einem auf der Reise begegnen mag.“
„Sie ist wohl schon oft mit Ihnen gereist, nehme ich an, Miss Thornton.“
Lord Carltons Witzelei war weder besonders hilfreich, noch verdiente sie eine Antwort, also überhörte Cassie sie klugerweise einfach.
Ungerührt fuhr sie fort: „Obwohl wir das meiste davon den
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