04 - komplett
Begleitern der armen Frau gaben, der wir halfen, aßen wir doch jede ein Stück Pastete und einen Keks, nicht wahr, Sarah?“
„Ja, aber ich gebe zu, ich bin noch ein wenig hungrig, Cassie.“
Die Haushälterin, die inzwischen hereingekommen war, folgte Lady Longbournes Aufforderung, die beiden Damen zu ihren Zimmern zu führen. An der Tür hielt Cassie noch kurz inne und schaute zurück. Sie begegnete dem Blick Lord Carltons, und ihr Herz machte einen Sprung.
Wie unglaublich gut er doch aussah! So viel besser als in ihrer Erinnerung. Es war ein glücklicher Umstand, dass Lord Carlton seine Mutter gerade jetzt besuchte. Ein Gentleman seines Standes besaß gewiss viele Freunde. Und sollte er öffentlich zeigen, dass ich seine Billigung finde, dachte Cassie, werde ich überallhin eingeladen werden. Wenn sie nur irgendwie vor Ende der Saison nach London gelangen könnte.
Vincent, ein Weinglas in der Hand, betrachtete Cassandra gedankenverloren, während der Butler den zweiten Gang des Dinners servierte: ein sehr ordentliches Mahl für ländliche Verhältnisse – Tauben in Weinsauce, eine gebratene Poularde, Schweinebraten und dazu Erbsen und kleine in Butter geschwenkte Kartoffeln. Zum Abschluss gab es eine Quarkspeise und einige Törtchen. Vielleicht nicht ganz auf dem Niveau des französischen Kochs, den er selbst in London beschäftigte, aber doch nicht so schlecht, um Ärgernis zu erregen. Dennoch stellte Vincent fest, dass er keinen Appetit hatte.
Ihm fiel auf, dass auch Cassandra nur wenig von der Poularde und den Gemüsebeilagen kostete, die Schweinekeule und die Tauben gar nicht anrührte. Als schließlich der Nachtisch gebracht wurde, sprach sie jedoch den verschiedenen Desserts zu. Ganz offensichtlich war sie ein gesundes Mädchen mit einer lebhaften, intelligenten Art.
Er hatte Zweifel gehabt, ob er sein Versprechen Jack gegenüber würde halten können. Doch jetzt, da er sie verstohlen betrachtete, schien es ihm, als müsste er sich nicht allzu sehr dazu überwinden. Sie war nicht hübsch, da hatte seine Mutter recht behalten, aber durchaus charmant und anziehend.
In der guten Gesellschaft war es üblich, dass ein verheirateter Mann sich eine Geliebte hielt. Vielleicht würde Cassie ja damit einverstanden sein. Vincent wusste nur nicht genau, ob es das war, was er sich wirklich wünschte. Aber was wollte er dann? Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Eine Liebesheirat? So naiv, an die wahre Liebe zu glauben, konnte er doch nicht mehr sein, oder?
Cassie war sich nur allzu bewusst, dass Lord Carlton sie während des Essens beobachtete. Er aß kaum, und der nachdenkliche Ausdruck in seinen Augen stand so sehr im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten, dass es sie erstaunte. Als er sich jedoch nach dem Dinner zu den Damen gesellte, war er wieder charmant und unbekümmert.
„Möchten Sie sich vielleicht ein wenig das Haus ansehen, Miss Thornton?“, fragte er.
„Es ist nicht sehr alt, also kann ich Ihnen keine Geister oder faszinierende Antiquitäten versprechen. Aber wir besitzen eine gut bestückte Bibliothek mit einer prächtigen Decke.“
„Die wird Cassandra nicht sehen wollen“, wandte seine Mama streng ein. „Du solltest ihr die Orangerie zeigen. Das wäre viel passender.“
„Es wäre mir eine Freude, mir das Haus ansehen zu dürfen, Mylord“, sagte Cassie.
„Und Sie, Miss Walker?“
Doch Sarah bat, sie zu entschuldigen, da sie Lady Longbourne versprochen hatte, am Klavier für sie zu spielen.
Cassie erhob sich und begleitete ihren Gastgeber in die Halle hinaus. Sie durchquerten einen zweiten großen Salon, in dem es außer einigen recht ungemütlich aussehenden Sofas, die alle an die Wände geschoben worden waren, keine weiteren Möbel gab.
„Hier halten wir ab und zu einen kleinen Tanzabend ab“, erklärte Vincent. „Es gibt natürlich nicht genügend Platz für einen wirklichen Ball. Deswegen dachte ich schon an einen Anbau. Das Haus meines Großvaters in Surrey hingegen ist viel größer. Ich denke, sollte ich mich auf dem Land niederlassen, dann auf dem Gut meines Großvaters.“
„Nun, ich könnte mir schon vorstellen, dass Sie auch hier gut und gern zwanzig Paare unterbringen können, wenn Sie wollen“, meinte Cassie höflich.
„Ja, vielleicht. Bisher hatte ich nicht den Wunsch, hier einen Ball abzuhalten. Das könnte sich in Zukunft natürlich ändern.“
„Ihre Gattin wird später gewiss ab und zu Gäste einladen wollen“, gab Cassie zu bedenken.
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