04 - Lebe lieber untot
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Aufgrund der Tatsache, dass ich ein fünfhundert Jahre alter gebürtiger Vampir bin, habe ich schon so ziemlich jede Katastrophe erlebt, die überhaupt vorstellbar ist.
Krieg.
Hungersnot.
Naturkatastrophen.
Börsenkrach.
Gepuderte Perücken (das werde ich meinem Vater noch in hundert Jahren unter die Nase schmieren).
Also jedenfalls gibt es nicht mehr viel, das mich - Gräfin Lilliana Arrabella Guinevere du Marchette (kurz Lil genannt) -, Manhattans numero uno auf dem Gebiet der Partnervermittlung, schockieren könnte ..
Außer vielleicht die geschmackvoll dekorierten Räumlichkeiten meiner Partnerschaftsvermittlung - Dead End Dating - zu betreten, nur um dort einem Anthony-Soprano-Klon mit einem überaus tödlich aussehenden Pfahl in der Hand zu begegnen.
Ich blieb ziemlich abrupt im Eingang stehen, nachdem sich meine Constanca-Basto-Sandalen glattweg weigerten, mich den Rest des Weges ins Büro zu tragen.
Ganz schön schräg, was? Schließlich verfügte ich über ein Riesenpaket von Supervampirkräften: hochauflösendes Sehvermögen, verbessertes Gehör, die Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Wenn man dazu dann noch meinen kleinen Zaubertrick zählte - die Macht, das andere Geschlecht mit meinem ebenso unergründlichen wie berückenden Blick quasi zu hypnotisieren und dazu zu bringen, mir zu Willen zu sein -, dann hatte ich doch wirklich wenig zu befürchten, trotz des Atomzahnstochers in seinen fleischigen Händen.
Andererseits trug er eine tiefschwarze, vollkommen undurchsichtige Ray Ban, was mir die Sache mit dem Gedankenlesen und dem Zaubertrick doch ziemlich vermieste. Er saß hinter meinem Schreibtisch und hatte die Füße auf die Tischplatte aus Glas und Chrom gelegt.
Sein Haar war dünn, braun, und die hohe Stirn verriet mir, dass er Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig sein musste. Eine schwarze Gucci-Jacke schmiegte sich eng an seinen Schmerbauch. Schwarze Hose, Socken mit klassischem Rautenmuster und glänzend schwarze Slipper vervollständigten sein Outfit. Den Pflock schob er von einer Hand in die andere. Hin und her. Und dabei starrte er mich an.
Mein Herz legte einen Gang zu und ich nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug (was für meine Art keine Notwendigkeit ist, aber nach all den Jahren, die ich schon unter den Menschen verbracht habe, ist das zu einer Art Gewohnheit geworden). Der Duft nach Knoblauch und Wurst stieg mir in die Nase.
Ich unterdrückte den Drang, auf der Stelle wieder abzuhauen (hey, meine Füße waren eingefroren), und beschloss, mich an Plan A zu halten - mich also irgendwie aus einer schwierigen (und ziemlich üblen) Situation herauszuschwindeln.
Darum hörte ich mit dem Atmen auf und brachte mein berückendstes Lächeln zustande. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
„Lil Marchette?“, fragte er. Dabei hing ihm eine dicke kubanische Zigarre aus dem Mundwinkel. Er hatte einen auffälligen Akzent, der mir verriet, dass er aus Jersey kam, und die kalte, gefühllose Stimme eines Mannes, der mich lieber mit einem Betonklotz um die Füße als in meinem neuesten Stringtanga von La Perla sehen würde.
„Ahm, nein!“, stieß ich hervor. „Ich bin Evie, Lils Assistentin. Sie... selbst ist im Augenblick im Urlaub. In einem… richtig langen Urlaub.“
„Evie, häh?“ Die Ray Ban musterte mich. Einmal.
Zweimal. „Komisch, aber vor ungefähr 'ner Stunde hab ich schon mal 'ne Evie getroffen.“ Er zog an seiner Zigarre und winkte mir dann mit dem Ding zu. „Und Sie sehen kein bisschen so aus wie sie.“ Spiralförmig bewegte sich eine Rauchwolke zwischen uns in Richtung Zimmerdecke. „Sicher, Sie sind beide blond, aber Ihre Haare sind länger. Und Sie sind größer. Und Sie sind ein Vampir.“
So viel zu Plan A.
Zeit für Plan B - mich mit Hilfe meines Charmes aus dem Schlamassel lavieren.
„Nettes Jackett“, sagte ich zu dem Kerl.
„Gefällt's Ihnen? Hat mir meine Mutter gekauft.“
„Sie hat einen ausgezeichneten Geschmack.“
Da lächelte er doch tatsächlich. „Und ob sie den hat. Die Frau ist eine Heilige.“ Die Ray Ban konzentrierte sich auf mein Gesicht. „Geht jeden Samstag und Sonntag zur Messe. Und Lügner kann sie überhaupt nicht ausstehen.
Sie erkennt einen Lügner schon auf fünfzig Schritte. Sie hat nämlich Intuition. Jedes Mal, wenn sie 'n Lügner trifft, kriegt sie Krämpfe.“
„Vielleicht sind das nur Blähungen.“
„Haben Sie schon mal eine Heilige mit Blähungen getroffen?“
Ich hatte überhaupt noch nie
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