0465 - Heute Engel - morgen Hexe
aus dem Mund strömende Nebel veränderte seine Farbe. Zuerst schoben sich feine rote Fäden hinein, sie nahmen an Intensität zu, so dass sie zu einer knalligen Farbe wurden, die das Weiß des Nebels überdeckte.
Die Wolken glitten lautlos an der neuen Person vorbei, drängten sich an ihren Rücken, und dort entstanden aus ihr Gebilde, die mich an gewaltige Flügel erinnerten, wie man sie bei einer Riesenfledermaus sah. Wie die Hälften eines schützenden Mantels umgaben die Schwingen den Rücken und die Schultern der Frau.
Da war jemand geboren oder wiedergeboren! Aber wer? Wie hieß diese Person, die aus dem Körper der starr daliegenden Gitty Oldman gekrochen war und sich zu einem eigenständigen Wesen entwickelt hatte?
Ich hatte schon oft mit Dämoninnen gekämpft, zumeist waren es Hexen gewesen, aber diese fantasie hafte Gestalt hatte ich noch nie in meinem Leben zu Gesicht bekommen.
Der Blick ihrer Augen sagte mir, dass es zwischen uns beiden keine Verbindung geben konnte. Er war feindselig, er war grausam, wenn nicht sogar tödlich und hasserfüllt.
Wenn jemand geboren wird, dann möchte er auch leben und etwas unternehmen.
Bei einem Menschen ist das sehr positiv einzuschätzen, nicht so bei einer Gestalt wie die, die ich vor mir sah. Für mich gab es nur eine Alternative.
Ich musste sie zerstören, bevor sie anfing, einen großen Terror zu planen.
Reichte das Kreuz?
Bisher war es praktisch zum Geburtshelfer des Bösen geworden, das sollte mir nicht noch einmal passieren, aber die neue Gestalt schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie gab mir eine Antwort.
»Als die Große Mutter dir die Zeichen von deiner Waffe nahm, hat sie genau gewusst, was sie tat. Kaum jemand kennt die Geheimnisse der Natur so wie sie. Du wirst es nicht schaffen, das Kreuz gegen mich einzusetzen. Ich weiß, dass du es gern tun würdest, aber ich bin zu meiner vollen Stärke erwacht und werde mich nicht durch dich aufhalten lassen.«
Bei ihren letzten Worten breitete sie die Schwingen aus und verkleinerte sich trotz ausgebreiteter Flügel innerhalb einer Sekunde so stark, dass sie nur noch so groß wie eine Stubenfliege war, die noch einmal dicht vor meinen Augen herzuckte und einen Moment später meinem Blickfeld entwischt war.
Zurück blieben Gitty Oldman und ich!
Da sie zum ersten Mal nach unserer Begegnung einen Laut von sich gab, lenkte sie mich von der »Fliege« ab. Gitty Oldman richtete sich auf, und bei dieser Bewegung verrutschte das Laken.
Vor mir im Bett saß eine völlig normale, unbekleidete Frau!
***
Die dunkelhaarige Frau saß wie zu Stein erstarrt auf ihrem Bett. Die Hände lagen auf dem Laken, ihre Arme waren angewinkelt, und nur ihr Kopf bewegte sich.
Ich stand neben dem Bett, und plötzlich weiteten sich ihre dunklen Augen.
Sie öffnete den Mund, aber ihre Vampirzähne waren verschwunden. Ich las ihr eine Frage von den Lippen ab, denn sie sprach sie nicht aus. Plötzlich hob sie die Arme und presste sie vor ihre Brust, um sich zu schützen, weil sie sich ihrer Blöße bewusst geworden war.
»Ich heiße John Sinclair.«
Sie nickte nur. Dann sagte sie: »Wie kommen Sie in meine Wohnung? Ich habe Sie nie zuvor gesehen.«
»Es ist eine etwas längere Geschichte. Ich könnte sie Ihnen erzählen, wenn Sie sich anziehen, Miss Oldman. Kümmern Sie sich dabei nicht um mich. Ich werde versuchen, jemand zu fangen.«
»Wen?«
Es passierte in dem Augenblick, als ich die Antwort geben wollte. Da öffnete Rick Stockman die Tür, betrat das Zimmer und blieb steif stehen, als er meine laute Stimme vernahm.
»Tür zu!«
Er tat es nicht. Wahrscheinlich sah er keinen Grund. Zudem war es auch zu spät. Das fliegengroße Wesen hatte es geschafft, den Raum zu verlassen. Ich sah, wie ein schwarzer Punkt durch den Spalt huschte und im Flur verschwand.
»Ist irgendwo ein Fenster offen, Mr. Stockman?«
»Im… im Bad, glaube ich.«
Ich räumte den Mann zur Seite, rannte ins Bad und ahnte, dass ich zu spät gekommen war. Mein Gefühl sagte mir einfach, dass die Verwandelte verschwunden war.
Jetzt hatte sie freie Bahn.
Ich stellte mich an das Fenster und öffnete es. Mein Blick fiel über Dächer und auch gegen den grauen Novemberhimmel, wo die Wolken eine flache, lange Schicht bildeten.
Mir kam es so vor, als wollte mich dieses kleine Tier verhöhnen, denn es flog so dicht an mir vorbei, dass ich es hätte greifen können. Aber wer kann schon mit der Hand eine Fliege fangen, wenn er nicht geübt ist?
Mir
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