0484 - Die Rächerin aus Aibon
weshalb nicht mein Bruder? Können Sie mir das erklären?«
»Nein, aber vielleicht Sie, Muriel.«
Sie schaute mich an. Ihre Augen besaßen einen trüben Glanz. Ich sah, daß sie nachdachte. Schließlich hob sie die Schultern. »Sie ist gekommen, um ihn abzuholen. Ich, ich konnte nichts tun. Sie stand auf dem Hof. Ich wurde starr und mußte mit ansehen, wie sie meinen Bruder in einen der Särge steckte.«
»Wirklich ohne Grund, Muriel?«
Die Frau schaukelte auf dem Stuhl von einer Seite zur anderen. »Ich weiß nicht genau, aber…«
»Also hatte sie einen Grund?«
»Ja, den hatte sie tatsächlich. Sie sagte es mir und ihm. Er hat etwas getan.«
»Was?«
»Lester hat gemordet.«
Das war für mich eine Überraschung. Ebenfalls für Suko, der näher gekommen war und die Worte ebenfalls vernommen hatte. Wir nahmen die Frau zwar nicht gerade ins Kreuzverhör, aber unsere Fragen prasselten von zwei Seiten auf sie nieder. So erfuhren wir eine Geschichte, die eine schreckliche Tat beinhaltete, die nicht hier auf dieser Welt geschehen war, sondern in Aibon.
»Ihr Bruder hat also die Eltern dieser Jarveena getötet?« faßte ich noch einmal zusammen.
»So ist es.«
»Und weshalb kam das Mädchen mit drei Särgen zu Ihnen? Können Sie sich das erklären?«
»Nein.«
»Denken Sie nach? War er vielleicht nicht allein?« Suko stellte die Frage.
Er wurde auch angeschaut. »Ich… ich weiß es nicht genau, aber Lester benahm sich so komisch. Die… die Frau war schon da, da wollte er noch einmal telefonieren.«
»Mit wem?«
»Er kennt da jemand, der Zack Adler heißt. Die beiden sind Freunde. Eigentlich gehört noch ein dritter dazu. Er heißt Tom Sullivan.«
Suko notierte die Namen, während ich die nächste Frage stellte. »Kennen Sie die Männer, Muriel?«
»Natürlich.«
»Drei Särge«, sagte ich. »Einer war für Ihren Bruder. Könnten die anderen beiden für Adler und Sullivan reserviert gewesen sein?«
»Das ist möglich.«
»Dann brauche ich die Adressen.«
Sie überlegte noch. »Adler ist Fotograf. Er lebt im Westend, glaube ich.«
»Gut, und Sullivan?«
»Über ihn weiß ich nicht viel. Er hat sich zurückgezogen und malt. Mein Bruder hatte kaum noch Kontakt zu ihm. Er sprach davon, daß Tom wirr im Kopf wäre. Seine Bilder, ich habe eines mal gesehen, zeigen wohl nur grauenhafte Szenen. Wahrscheinlich malt er seine eigenen schrecklichen Phantasien aus.«
»Wissen Sie wirklich nicht, wo er lebt?«
»Nein!«
Suko stieß mich an. »Das kriegen wir heraus.«
Er hatte recht. Wichtig für uns war ein Mann namens Zack Adler. Ich ging davon aus, daß sich Jarveena auf ihrer Todestour auch an ihn wenden würde.
»Wo wohnt Adler?«
»Nahe der Kensington Road. De Vere Street, glaube ich.«
»Danke sehr.«
Suko ging schon zur Tür. Ich wandte mich noch einmal an Muriel. »Soll ich noch einen Arzt schicken?«
»Nein, ich schaffe das so.«
»Ich gebe schon auf sie acht«, sagte der Mann im Kittel, der unserem Gespräch gefolgt war.
»Gut, machen Sie das.«
Suko und ich aber hatten es verdammt eilig…
***
»Aber Loretta, du sollst eine Italienerin darstellen und keine prüde Zicke. Mach schon, mach schon, du bist in der Sonne Italiens, liegst am Lido, räkelst dich, siehst die Blicke der Männer auf dich gerichtet und denkst daran, daß dein Körper so herrlich braun geworden ist, weil du ihn mit dem Oil of Sun eingerieben hast.«
»Aber ich bin nicht in Form, Zack. Es regnet doch fast immer hier in London. Wir können ja nach Italien fahren!« schlug das Modell vor. »Wie wär's damit?« Sie sprach einen breiten Liverpool-Slang. Hätte sie nicht so gut ausgesehen, hätte Zack sie schon längst über die Themse nach Hause geschickt. Aber die Leute flogen nun mal wieder auf kurvenreiche Frauen, die so ähnlich aussahen wie die Loren in jungen Jahren. Da war ein gewisser Nachholbedarf zu verzeichnen.
Statt dessen riß sich Zack Adler zusammen. Er lächelte honigsüß. »Klar, Loretta, klar. Das alles werden wir beide noch machen, wenn die Fotos gelingen. Das kann dein Durchbruch sein.«
»Zu was?«
»Zu deiner Karriere.«
»Das erzählst du mir schon seit zwei Jahren.«
»Du mußt auch Geduld haben.«
»Dann bin ich out, wie?«
»Mach's noch mal, Loretta bitte.« Zack Adler stand innerlich unter Starkstrom. Er bewunderte sich selbst, daß er in diesen Augenblicken so ruhig blieb.
Sein Studio war nicht groß. Zwei Räume beherbergte es nur. Einen sechseckigen Arbeitsraum und nebenan ein
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