0522 - Er kam aus dem Todesschloß
versteht sich.« Ich schnippte mit den Fingern. »Eine Frage habe ich noch. Fühlen Sie sich denn wohl in Ihrer Haut, Sir?«
»Sie wollen eine ehrliche Antwort, John?«
»Bitte.«
Sir James atmete tief ein. »Nein, auch ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut, das ist meine Antwort.«
»Ich danke Ihnen, Sir!«
Er nickte mir zu, als ich das Büro verließ. Ich war innerlich aufgewühlt und fühlte mich reingelegt. Voller Zorn ballte ich die Hände, als ich das Vorzimmer betrat, in dem Glenda Perkins wartete, obwohl sie schon Feierabend hatte. Sie merkte mir an, wie sehr ich unter Dampf stand.
»War der Ärger sehr groß, John?«
»Ja, noch größer.«
»Kannst du darüber reden?«
Ich setzte mich auf die Kante des Schreibtisches. »Es ist so eine Sache. Man hat mich hintergangen.«
»Wegen Julie?«
»Richtig. Sie ist bereits abgeholt worden. Man hat sie weggeschafft.«
»Wohin?«
»Sie wird die nächste Zeit in einer Klinik verbringen. Dort will man sie untersuchen oder testen. Man will ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten auf die Spur kommen.«
»Ein Kind als Versuchskaninchen?«
»Leider.«
Glenda schüttelte den Kopf und starrte gegen die Fensterscheibe.
»Meine Güte, John, in welch einer Zeit leben wir eigentlich?«
»In keiner besonders guten. Ich kenne Julie zwar nicht in- und auswendig, aber ich weiß, daß sie irgendwann, wenn ein bestimmter Punkt bei ihr erreicht ist, durchdreht. Sie bringt es fertig und holt alles aus ihrem Körper hervor, begreifst du das? Sie dreht dann einfach durch. Sie kann möglicherweise diese Klinik in eine Hölle verwandeln. Es ist für mich einfach schlimm. Das Kind braucht einen gewissen Schutz, auch vor sich selbst.«
»Ja, finde ich auch.«
»Und deshalb muß ich hin.«
Glenda verstand mich gut. »Wann willst du fahren? Hast du schon einen Termin?«
»Am frühen Morgen.«
»Und was sagt Sir James?«
»Ich fahre als Privatmann, denn ab jetzt bin ich nicht mehr im Dienst. Ich habe Urlaub.«
»Sieh mal an. Was ist mit Suko?«
»Ihn nehme ich nicht mit. Es geht auch nicht, weil ich keinen offiziellen Auftrag bekommen habe. Dieses Sanatorium wird Liebesnest genannt und ist geheim. Nur wenige wissen, was hinter seinen Mauern abläuft. Wenn so etwas schon eine Tatsache ist, werde ich mehr als mißtrauisch. Da laufen wahrscheinlich Dinge ab, die mir gar nicht gefallen.«
»Ich drücke dir die Daumen, John.«
»Danke.« Ich schaute auf die Uhr. »Hast du heute abend etwas vor, Glenda?«
»Nein.«
»Dann könnten wir irgendwo was essen.«
»Gern.« Sie kam zu mir und strich über meine Wange. »Es gibt Abende, da kann man nicht allein sein und muß einfach reden. Oder irre ich mich da?«
»Du irrst dich nicht, Glenda.«
»Wußte ich doch…«
***
Orrie Wayne war frei, und er jubelte innerlich, als er die dicken Mauern hinter sich gelassen hatte.
Der Wald kam ihm vor wie eine Insel, auf der er die wiedergewonnene Freiheit genießen konnte. Er atmete tief ein schaute zum Himmel und sah den Vollmond.
Orrie war es egal, welche Form der Mond besaß, wichtig für ihn war sein Anblick.
Er strich mit der linken Hand durch das dunkle struppige Haar.
In der anderen hielt er die Axt. Seine Finger umklammerten den Griff so hart, als wollten sie ihn nie mehr loslassen.
Er schaute zurück. Die alten Schloßmauern glänzten, als wären sie mit dunkler Farbe angestrichen worden. Es lag am Mondlicht, das auch die Fensterscheiben traf und sie aussehen ließ, als wären es viereckige Augen, die alles beobachten wollten.
Orrie fühlte sich nicht beobachtet.
Zum erstenmal seit Jahren spürte er das Gefühl von Freiheit. Der Drang, endlich rauszukommen war verschwunden. Jetzt hatte er genau, was er wollte. Schon damals, als sie ihn einkerkerten, hatte er gewußt, daß er irgendwann einmal rauskommen würde.
Jetzt besaß er die Axt!
Orrie öffnete den Mund und lachte kichernd. Es war herrlich, sich wieder auf die Waffe verlassen zu können. Diese Axt war etwas ganz Besonderes. Sie gab ihm Kraft und Stärke. Sie schaffte es, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, sie bahnten ihm den Pfad in die Freiheit. Keine Mauern sollten ihn mehr halten. Das alte Schloß war verflucht. Es sollte auf dem Berg verrotten. Er würde schon ein anderes Versteck finden. In der Nähe wuchsen die tiefen Wälder. Sie bildeten gewaltige Wellen auf den Kuppen der Berge. Es gab nicht viele Straßen, das wußte er. Kaum jemand verirrte sich in diese Einsamkeit. Im Winter schon gar nicht. Im
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