Der fröhliche Frauenhasser: Dr. Siri ermittelt (German Edition)
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FÜNF TOTE FRAUEN
Der Kalender zeigte das Jahr 1978, und in Vientiane, der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Laos, herrschten Trübsal und Tristesse. Man hatte ihr mit aller Macht das Leben ausgepresst wie einer Durianfrucht den Saft. Sie war grau und fad und suhlte sich in Selbstmitleid.
Die frischgebackene sozialistische Regierung, die die sechshundert Jahre alte Monarchie vom Thron gestoßen hatte, musste allmählich einsehen, dass sie mit ihrer Aufgabe gelinde überfordert war. In den zwei Jahren seit der Machtübernahme hatte der Premierminister vier Attentate nur knapp überlebt. Die Armee rodete die Wälder und verhökerte das Holz heimlich ins Ausland, und Pathet-Lao-Soldaten verschoben Benzin auf dem Schwarzmarkt. Die Insassen der Umerziehungslager im Norden erhielten neuerdings verstärkten Zuwachs: durch korrupte sozialistische Beamte.
Die Zahlen sprachen für sich. Das Pro-Kopf-Einkommen lag bei unter neunzig US-Dollar, und über hunderttausend Menschen waren aus der Stadt geflohen, um in den thailändischen Flüchtlingslagern am anderen Ufer des Mekong ihr Glück zu suchen. Obwohl die verbliebene Bevölkerung zu fünfundachtzig Prozent aus Subsistenzbauern bestand, war Laos zum ersten Mal seit Menschengedenken gezwungen, Reis zu importieren. Nach der beispiellosen Dürre im Vorjahr hatte die Landwirtschaftsabteilung für 1978 eine schwere Hungersnot prognostiziert. Wie es schien, hatte selbst Buddha seine Schäfchen im Stich gelassen. Die Regierung hatte den privaten Handelsverkehr per Dekret strengen Beschrän kungen unterworfen, was jedoch keine allzu große Rolle spielte, da ohnehin kaum Geld im Umlauf war. Die fünfhundert Millionen Dollar, die die US-Imperialisten während des Vietnamkrieges in die Stadt gepumpt hatten, waren längst in dunklen Kanälen versickert. In den verzagten Gesichtern der Hauptstadtbewohner spiegelte sich die Freudlosigkeit der Kapitale. Und so gab es am 11. März jenes Jahres im ganzen Land nur zwei Männer, die wirklich und wahrhaftig glücklich waren.
Der eine war der bald vierundsiebzigjährige amtliche Leichenbeschauer Dr. Siri Paiboun. Dass ein so betagter Mann, der im Laufe seines langen Lebens so viel schlechtes Karma angehäuft hatte, überhaupt noch Grund zur Freude fand, grenzte an ein Wunder. Zwei Jahre zuvor hatte man seinem Traum von einem beschaulichen Rentnerdasein ein grausames Ende bereitet und ihn kurzerhand zum ersten und einzigen Pathologen des Landes bestellt. Es war der Tiefpunkt einer von Mühsal und Unbill geprägten Existenz: Jahrzehntelang hatte er versucht, seine eigene Kommunistische Partei zu verstehen, jahrzehntelang war er mit einer Frau verheiratet gewesen, der die Revolution mehr bedeutet hatte als die Gründung der ersehnten Familie, jahrzehntelang hatte er Soldaten zusammengeflickt, die in den zahllosen Schlachten eines anhaltenden Bürgerkrieges verstümmelt worden waren. Da machte ein Rückschlag wie dieser den Kohl auch nicht mehr fett.
Doch dann hatte das Schicksal ein Einsehen gehabt und den Witwer Siri mit einer alten Freundin, der Freiheitskämpferin Madame Daeng zusammengeführt, die mit ihren sechsundsechzig Jahren noch immer wunderschön war und ihren weißhaarigen Doktor noch immer heiß verehrte. Die beiden hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und vor knapp zwei Monaten Hochzeit gefeiert. Die Flitterwochen schienen kein Ende nehmen zu wollen, und stets lag ein beseeltes Lächeln auf den Lippen den Leichenbeschauers.
Der andere wirklich und wahrhaftig glückliche Mensch an diesem drückend schwülen Märztag war ein Mann, der gewöhnlich unter dem Namen Phan firmierte. Er hatte soeben seine fünfte Ehefrau ins Jenseits befördert, und wie üblich schöpfte niemand auch nur den geringsten Verdacht. Wenn das kein Grund zur Freude war …
»Sind Sie Dr. Siri?«
»Ja.«
»Dr. Siri Paiboun?«
»Ja.«
»Der Leichenbeschauer?«
»Dreimal ins Schwarze. Sie haben eine Kokosnuss gewonnen.«
»Ich muss Sie bitten mitzukommen.«
Siri stand am Fuß der Treppe, die ins obere Stockwerk von Madame Daengs Nudelküche in der Fa Ngum Street führte. Er trug weiter nichts am Leib als ein Paar Muay-Thai-Boxershorts, sein dichtes, weißes Haar stand nach allen Seiten ab, und seine verquollenen Augen waren schlafverklebt. Er hatte eigentlich erst um acht aufstehen wollen, und jetzt war es Viertel nach sechs. Daeng war nach unten gegangen, um Nudelwasser für den Frühstücksansturm aufzusetzen, und hatte auf das
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