0595 - Der Werwolf-Dämon
Wald, Großmutter Das Monster hat ihn umgebracht.«
»Monster…«, wiederholte sie, und es klang seltsam aus ihrem Mund. »Fängst du wieder mit deinen Monstern an, Philippe?«
Mühsam erhob sie sich. Es war, als habe der Tod ihres Enkels sie um weitere zwanzig Jahre altern lassen. Sie stützte sich an den Bücherregalen ab, als sie langsam, Fuß vor Fuß, zur Tür ging.
»Es sind nicht meine Monster, Großmutter«, protestierte Philippe. »Es gibt sie nun mal.«
»Ja«, sagte die alte Dame. »Es gibt auch den Weihnachtsmann. Und es gibt Wunder. Weißt du«, sie wandte sich zu ihm um, »diese Wunder finden immer dann statt, wenn niemand hinschaut, und immer dort, wo niemand ein Wunder braucht. Aber in dieser Welt, in der wir leben müssen, gibt es sie nicht. Nicht die Wunder, nicht den Weihnachtsmann, und auch nicht deine Monster. Hier gibt es nur Menschen, die leben und nach etwas Höherem streben und doch niemals ihr Ziel erreichen. Die ihre Träume niemals erfüllt sehen werden. Immer, wenn du glaubst, du schaffst es jetzt endlich, kommt der nächste Nackenschlag. Jean hat es hinter sich. Die Engel geben niemandem Nackenschläge.«
Sie ging, jetzt etwas sicherer, zur Zimmertür.
»Ich weiß es, mein Junge«, sagte sie leise. »Denn ich bin ihnen schon so nahe… so nahe…«
Bestürzt sah Philippe ihr nach. Als sie die Treppe erreichte, war er bei ihr.
»Ich helfe dir hinunter«, sagte er.
»Das kann ich allein«, wehrte sie ab, und dann flüsterte sie: »Nein, es waren nicht Dominique oder DeGault. Es war der Wald, der ihn getötet hat.«
Sie tastete sich die Stufen hinunter.
»Der alte Wald«, hörte Philippe sie murmeln. »Der schöne, alte Wald. Dieses Wunder, das Jean nie begreifen konnte…«
***
Philippe schlurfte in sein eigenes Zimmer. Es lag gleich nebenan. Er und Jean waren nicht nur Brüder gewesen, sondern auch Freunde.
Und auch Leseratten waren sie beide gewesen. Doch während sich Jean eher der Science Fiction zuwandte, war Philippe eher der Wissenschaftlern Er fragte sich, warum die anderen nicht begreifen wollten, was wirklich geschehen war, als Jean starb.
Die Bezeichnung ›Monster‹ traf es nur zum Teil. Es war, das ahnte Philippe, etwas anderes, auf das der Begriff ›Monster‹ nur im übertragenen Sinne zutraf. Philippe hatte eine sehr konkrete Vorstellung davon, womit er es zu tun hatte.
Der Kripo-Beamte, der hiergewesen war - hieß er nicht Marais? hatte etwas von einem großen, freilaufenden Hund gemurmelt.
Aber an einen Hund glaubte Philippe nicht.
Eher an etwas… Ähnliches.
Einen Wolfsmenschen!
Eines jener Wesen, die sich zu bestimmten Zeiten verwandeln konnten.
Menschen, die in Wirklichkeit Wölfe waren, um so auf Jagd zu gehen und andere Menschen zu töten.
Der Sechzehnjährige kannte sich in diesen Dingen aus. Er hatte genug über Werwesen gelesen, und auch über andere Phänomene. Und nicht nur in Gruselromanen. Er bevorzugte eher die Fachliteratur, für die er eine Menge seines Taschengeldes ausgab. Zeitschriften für Parapsychologie, Sachbücher über Okkultismus und Magie, das alles stapelte sich in seinem Zimmer.
Er war sicher, daß die Kreatur, die seinen Bruder ermordet hatte, weder Mensch noch Tier war, sondern eines jener Geschöpfe aus einem Zwischenreich. Denn mit einem freilaufenden Killerhund, davon war er überzeugt, wäre Jean sicher fertiggeworden. Und Wölfe es hier nicht.
Vor ein paar Jahren sollte sich zwar vorübergehend ein Wolfsrudel drüben in der Bretagne herumgetrieben haben. Kaum jemand wollte allerdings wirklich daran glauben. [1]
Aber in einer der Fachzeitschriften hatte Philippe dann einen Artikel darüber gelesen. Von dem Parapsychologen Zamorra. Von diesem Professor hatte er auch einige Bücher, die als Standardwerke in diesem Fachbereich galten.
Wenn Professor Zamorra über diese Wölfe geschrieben hatte, dann mußte auch etwas an der Sache dran sein! Der Mann war schließlich kein Spinner, sondern ein Wissenschaftler mit internationaler Reputation!
Wölfe… Wolfsmenschen…
Ein Werwolf hatte Jean ermordet. Und dieser Werwolf würde wieder zuschlagen.
Die Vollmondnächte hatten gerade erst begonnen. Ein paar Tage - nein, Nächte - standen noch bevor.
Zeit, dem Ungeheuer aufzulauern und es zur Rechenschaft zu ziehen für das, was es getan harte.
Philippe wollte Rache!
***
Sie fühlte sich müde. So unendlich müde.
Schon wurde der Mond schmaler, aber es reichte noch nicht. Nach wie vor wollte der Drang sie
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