0605 - Der Horror-Engel
Kanaula war kein Gott in diesem Sinne, er und seine Begleiter aus dem Anbeginn der Zeit waren etwas ganz anderes, für das nur die Sprachen der Ureinwohner Worte hatten.
Normalerweise wurde man eins mit der Traumzeit in einem Ritual. Oft nach einem Corroborree, einem jener gewaltigen Tanzfeste. Oder man sang allein seinen Weg zu seinem Traumzeitplatz, den kein Fremder und keine Frau betreten durfte; es wäre eine unwiderrufliche Entweihung.
Doch Shado hatte nicht gefeiert, und er hatte nicht gesungen.
Plötzlich war Kanaula vor ihn getreten und hatte ihn mit sich genommen.
Wortlos, und doch hatte Shado alles verstanden, was Kanaula ihm zu sagen hatte.
Etwas war geschehen, das die Traumzeit störte, und Kanaula zeigte es Shado. Es war geschehen vor vielen Tagen, vor einem Jahr oder auch morgen. Und es war nicht gut.
»Was soll ich tun, Regenbogenmann?« hatte Shado gefragt - daran konnte er sich noch erinnern. »Soll ich versuchen, es zu ändern?«
Doch Kanaula erwiderte nur in seiner lautlosen Art, Shado würde schon wissen, was zu tun wäre. Wenn es an der Zeit war, es zu tun.
»Und wann ist es an der Zeit?« sang Shado.
Immer, teilte Kanaula ihm mit.
»Warum aber zeigst du es mir ausgerechnet jetzt?« wollte Shado wissen.
Jetzt ist immer, doch im Immer entsteht jetzt die beste Konstellation von Personen und Ereignissen.
Worauf Shado wieder in der Jetztwelt erwachte.
Und sich an andere Dinge erinnerte, die er gesehen hatte, als er mit Kanaula sang.
Dinge?
Einen Mann, zwei Frauen und ein Geschöpf, wie es die Traumzeit nicht kannte, denn es hatte Macht über die Zeit.
Den Mann und eine der beiden Frauen kannte Shado.
Zamorra und Nicole Duval. Die beiden Weißen, die fähig waren, mit der Traumzeit zu leben. Auch wenn Nicole Duval eine Frau war. Sie war mehr als das.
Doch die beiden anderen?
Shado erschauerte, wenn er sich an die Augen des Mannes erinnerte, aus dessen Rücken große Flügel wuchsen.
Er war es, der die Traumzeit störte, und in seinen Augen loderte das Feuer der Zeit.
***
Beide, Zamorra ebenso wie Nicole, hatten gehofft, das Flugzeug würde umkehren. Daß der Pilot doch etwas gesehen hatte und jetzt nachschaute, worum es sich bei dieser Sichtung handelte.
Aber die Maschine kehrte nicht zurück, und auch kein anderes Flugzeug kam in Sicht.
»Vielleicht war es einer der ›fliegenden Ärzte‹«, überlegte Nicole. »Dann kommt er möglicherweise in ein paar Stunden wieder hier entlang.«
»Oder auch gar nicht, weil er Patienten in der anderen Richtung abklappert«, dämpfte Zamorra ihren Optimismus.
Die medizinische Versorgung dieses riesigen Kontinents erfolgt außerhalb der großen, zumeist an der Küste gelegenen Städte vorwiegend aus der Luft. Der Arzt fliegt zu den Farmen.
Oder zu den kleinen Ansiedlungen der mehr und mehr seßhaft werdenden Aborigines. Es gibt auch an zahlreichen Stellen Medikamenten-Depots, zu denen die Patienten geschickt werden, um sich mit dem zu versorgen, was der Arzt verordnet.
In den unendlichen Weiten des Outback, jener menschenleeren und nur hier und da an Wasserstellen besiedelten Ödnis, sind Flugzeuge die schnellsten, effektivsten und zumeist preiswertesten Verkehrsmittel. Was dem Europäer sein Auto, ist dem Australier sein Flugzeug, und oft genug sind diese Apparate im Eigenbau zusammengebastelt und deshalb auch nur bedingt als sicher zu bezeichnen. Zudem erlernt der Australier - will man Spöttern glauben - das Fliegen durch Versuch und Irrtum: Man stürzt so lange ab, bis man lernt, in der Luft zu bleiben…
Nun, Zamorras Pessimismus hatte durchaus seine Berechtigung. Ein flying doctor absolviert seine ›Hausbesuche‹ in Form einer möglichst effektiv geplanten Rundreise, um nicht mehrmals zu einem bestimmten Ort zurückfliegen zu müssen.
Das Flugzeug eines Farmers konnte es aber auch schlecht gewesen sein, was sie dort am Himmel gesehen hatten. In dieser Gegend südlich des Ayer’s Rock gab es keine Farmen.
Dies war Eingeborenen-Land, den Weißen war der Zutritt verboten.
Seit ein paar Jahren gab es dieses Gesetz, das auch rigoros angewandt wurde. Die britische Territorialverwaltung hatte begriffen, daß sie eine Menge an den Aborigines wiedergutzumachen hatte…
Zamorra kletterte nun hinter das Lenkrad des betagten Cadillac und rupfte sein T-Shirt beiseite, das er sich zum Schutz vor der Sonne über den Kopf gebunden hatte. Unter dem geschlossenen Cabrio-Verdeck brauchte er es nicht; im Gegenteil. Hier hatte sich ein
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