Stiller Zorn: Roman (German Edition)
1
»Hallo, Harry.«
Die schwiemeligen Augen schielten ins Licht. Er trug eine Kordjacke, dazu ein Köperhemd, eine an Knien und Hintern ausgeleierte Gabardinehose, die Beine zu lang, die Aufschläge ausgefranst. Sie hatten schon bessere Zeiten erlebt, die Klamotten ebenso wie der Mann. Harry habe sich immer schwer in Schale geworfen, sagten die Leute; todschick sei er gewesen, hieß es sogar. Doch jetzt hatten ihn der Stoff und seine sündige Seele geschafft.
»Carl?« Es klang wie ein ersticktes Flüstern. Auch jetzt hatte er eine Zigarette im Mundwinkel hängen. Sie hüpfte auf und ab, als er redete. »Ich hab das Geld, Mann. Alles wie gehabt, stimmt’s? Genau, wie du gesagt hast.« Er hustete tief und grollend.
»Nicht so hastig, Harry. Nur die Ruhe, wir haben jede Menge Zeit. Lass ein bisschen locker, freu dich des Lebens.« Das Hoflicht war hinter mir, und er schaute blinzelnd auf den Schatten, der auf ihn zukam. Nicht, dass es viel ausgemacht hätte. Er konnte nicht mal Schwarz und Weiß unterscheiden. »Und außerdem will ich dir erst noch eine Geschichte erzählen. Stehst du auf Geschichten, Harry?«
Die Öltürme hinter uns pumpten und hielten inne, pumpten und hielten inne.
»Magazine Street. Samstagabend, Viertel nach zehn, vor etwa einer Woche. Ein Mädchen aus Mississippi war da, Harry. Auf einer Party. Und du. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«
Seine Augen suchten die Dunkelheit rundum ab.
»Ich habe dich lange gesucht, Harry. Hat ’ne ganze Weile gedauert, bis ich dich gefunden habe. Jemand wie du, mit deinen Bedürfnissen, sollte nicht so schwer zu finden sein.«
Er nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sie weg. Sie lag da wie ein halbblindes Auge. Ich trat aus dem Lichtschein, und als er mich sah, kriegte er zum ersten Mal Schiss, richtig Schiss. Urängste wird man schwer los.
»Selbstverständlich ist das nur eine Geschichte. Und Geschichten erleichtern uns das Leben. Aber sie tun niemandem weh, nicht wahr, Harry?«
Ich ließ ihn das Messer sehen, das ich in der Hand hatte, ein Sattlermesser.
»Der große schwarze Sambo kommt dich holen, Harry. Der Nigger schlitzt dich genauso auf wie du sie. Da bleibt nicht viel übrig für die Schweine und die Hühner, nicht mal genug für ’ne Schlachtschüssel.«
Seine Augen zuckten. Er wusste, dass es irgendwo einen Ausweg gab. Wusste aber auch, dass er ihm genommen werden würde, genau wie alles andere in seinem Leben.
»Schau, Mann. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie liegen schwer daneben. Hörn Sie mal, es war nicht meine Schuld. Ich deichsel so was bloß – organisier es sozusagen –, das is alles, was ich gemacht habe. Die Irren sind das gewesen, Mann. Haare bis zum Arsch und mit ’nem Fritzenbully. Die haben die Kleine alle gemacht.«
Es sprudelte aus ihm heraus, etwa so wie einst die Welt in die Gänge gekommen sein muss: stoßweise, ohne jeden Zusammenhang, und darunter ein einziger wabernder Brei.
Ich hob das Messer und ließ die gebogene Klinge im Licht glitzern.
»Ja, ich weiß, Harry. Irre, die sich mit Junk und Schnee die Dröhnung geben, Irre, die auf Speed, Sprit und H laufen und von den paar hundert Dollar angetörnt sind, die sie irgendeinem Muttchen oder Väterchen aus der Kasse geklaut haben. Aber wer hat ihnen den Stoff besorgt, Harry? Wer hat ihn geliefert und die Party angeleiert? Wie viel hat sie der Spaß gekostet? Und wer ist auf die Idee gekommen und hat das Mädchen dazugeholt?«
Seine Augen funkelten furchtsam auf. Die Öltürme rund um uns ächzten wie müde alte Männer, die in den letzten Atemzügen liegen.
Er drehte sich um und wollte wegrennen, aber die Angst fuhr ihm in die Beine. Er verhedderte sich, fiel hin. Ich ließ ihn ein paar Meter kriechen. Er schluchzte. Würgte.
»Du hast nicht mal ihren Namen gekannt, Harry.« Ich trat langsam hinter ihn, schob den Fuß unter seinen Bauch und rollte ihn auf den Rücken. Er kippte um wie ein nasser Sack, verdrehte die Augen. Ich gönnte ihm einen langen Blick auf mein Gesicht, auf alles, was darin geschrieben stand.
»Müde von der Gutenachtgeschichte?«
Blut quoll aus seiner Kehle und tränkte Köper, Kord und Boden. Jetzt war kein Lebensfunke mehr in seinen Augen. Nirgendwo funkte noch was.
Ich durchsuchte seine Taschen und kassierte das Geld – das war für die Kleine. Dann bückte ich mich und brach mit dem Messer seine schlaffe Bauchdecke auf.
»Das war für Angie«, sagte ich.
Die Öltürme hinter uns erstickten jeden Nachruf.
2
Ich
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