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061 - Im Reich der Tausend

061 - Im Reich der Tausend

Titel: 061 - Im Reich der Tausend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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Panzer hinein, damit auch seine Kameraden sahen, dass irgendetwas ihn aufgesprengt hatte. »Wer immer hier lebt, hat schwere Waffen.«
    Auch seine Gefährten erblickten nun den Schaden. Sie schnappten erschreckt nach Luft.
    »Und außerdem«, fügte Tom hinzu und schaute in die Ferne, in der die Finsternis nun einem trüben Tag Platz machte, »kann er nicht weit entfernt sein.«
    Die anderen wandten sich um und folgten dem Blick seiner asiatischen Augen.
    Und tatsächlich: Im grauen Dunst auf der anderen Seite des verschneiten Talkessels ragten die verrotteten Türme einer Stadt in den Himmel.
    ***
    »Dosornyj Nikolaai! Aufgewacht!«
    Die Mark und Bein durchdringende Stimme des Einsatzoffiziers riss Nikolaai aus einem Traum, in dem er mit einer hübschen Podrugaauf einer Plastmatratze gerade erregende Leibesübungen machte. Dies war auch der Grund, warum sein Kopf beim Erwachen so rot war, als hätte man ihn mit der Hand im Zuckertopf erwischt. Nikolaai fuhr hurtig von seinem harten Lager auf und stieß sich den Kopf an der Unterseite des oberen Bettes. »Zu Befehl, Tovarisch Lejtenant!«, schrie er. Die Tür zum Schlafsaal des Wachlokals knallte schon zu, und der Einsatzoffizier suchte das Weite. Rings um Nikolaai her ächzten, seufzten und fluchten die Soldaten seiner Schicht. Der Späher Aljooscha, der über Nikolaai zu schlafen versuchte, schaute aus verquollenen Augen zur Tür und rief: »Jobtjovomath!«
    Ja, so waren sie, die Soldaten im Reiche Fjodoors des Gütigen: hart, aber ungerecht.
    Ohne Kultur.
    Mit Ausnahmen.
    Nikolaai war da anders. Er hatte Interessen. Er dachte nach. Er sprach gern mit den verdienten Gelehrten, wenn sie sich, was leider nur selten vorkam, dazu herabließen, das Wort an einen Limonka wie ihn zu richten. Dass er Interessen hatte und gern überlegte, musste einen Grund haben. Nikolaai hatte sich eine Theorie zurechtgelegt: Er war vermu tlich der illegitime Spross eines Gelehrten. Denn nur die Gelehrten hatten Interessen und dachten über Dinge nach. Zum Beispiel über Dinge, die es gar nicht gab: Kokakola, Twicks, Olwajs Ultra.
    Nikolaai stand auf, trat an die Waschschüssel und befolgte den Hygiene-Ukas. Das Wasser in der Kanne war arschkalt, aber es weckte einen Späher richtig auf. Nachdem Nikolaai sich angekleidet und gekämmt hatte, setzte er seine Pelzmütze auf und ging ins Kasino. Das lag, wie auch das Wachlokal, in U-1. Dort wurde er schon von einem harten Brotkanten, einem salzigen Süppchen und der ihm dienstgradmäßig zustehenden Großtasse Tee erwartet.
    Der Brotkanten schmeckte wie dröger Pappkarton, das Süppchen wie schon mal gegessen und der, Tee, wie sein Kampfgefährte Aljooscha sich auszudrücken beliebte, »wie Laternenpfahl ganz unten.«
    Auch die Arbeiter der Frühschicht waren schon auf den Beinen, ein rundes Hundert an der Zahl. Als Nikolaai in die grauen Gesichter der verhärmten Handwerker schaute, die in den Stadthaus-Etagen U-1 bis U-10 in der Hydroponik, der Schnitzelklonerei, der Wiederverwertung, der Lufterzeugung und einem Dutzend wichtiger anderer Produktionsstätten ihrem Tagwerk nachgingen, überfiel ihn ein heftiges Gruselgefühl.
    Um keinen Preis der Welt wollte er mit den Menschen tauschen, die ihr ganzes Leben hinter den sicheren Wänden des Reiches verbrachten. Sie waren zwar immer geschützt, aber ihre Tage reihten sich in endlosem Einerlei aneinander. Er hingegen hatte als Späher im Dienste des Zaren das Privileg, in die Welt hinaus zu gehen und Abenteuer zu erleben.
    Draußen gab es unzählige Dinge, die es im Stadthaus nicht gab; Dinge, deren Bestimmung er nicht kannte; Dinge, bei deren Anblick er raten musste, wo bei ihnen oben und unten war. Nicht mal die verdienten Gelehrten wussten manchmal mit den Gegenständen etwas anzufangen, die Nikolaai und seine Tovarischi von ihren Streifzügen ins Reich mitbrachten. Zum Beispiel mit dem eigenartigen Metallbehälter voller vereister Gummitütchen, den er kürzlich im Keller eines Hauses abmontiert hatte.
    Ja, das Leben eines Spähers war abenteuerlich und aufregend, deswegen wollte Nikolaai es nicht missen. Aus diesem Grund nahm er es auch bereitwillig auf sich, um diese frühe Stunde schon aufzustehen, wenn die Herren Offiziere noch ruhten. Nur jene, die Schichtdienst machten, hatten allzeit bereit zu sein. Und natürlich die Späher, die, wie Nikolaai annahm, der ganze Stolz des Zaren waren.
    Als er mit dem Frühstück fertig war, begab er sich ins Wachlokal, wo der Einsatzoffizier sich

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