0623 - Ein Tropfen Ewigkeit
sie da.
Und ich griff zu!
Bevor sie dagegenhalten konnte, hatte ich den Gral ebenfalls mit beiden Händen umfaßt und riß ihn ihr aus den Fingern. Damit mußte ich ihr etwas Schreckliches angetan haben, denn sie starrte mich mit einem Blick an, der mir Furcht einjagte und gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hochputschte.
Ich wollte sie ansprechen, überlegte es mir und löste eine Hand vom Gral, um sie anzufassen.
Meine Hände berührten ihre nackte rechte Schulter, wo das Fleisch, die Haut und die Knochen plötzlich nachgaben, denn Melusine de Lacre löste sich vor unseren Augen auf.
Sie besaß keinen Schutz mehr, der ihr ein Weiterlaufen innerhalb des Kessels ermöglichte. So bekam sie die Magie dieser Welt auf endgültige Art und Weise zu spüren.
Ihre Stimme wehte an meine Ohren. »Wie meinen Eltern, John, es ergeht mir wie meinen Eltern. Auch sie werden nicht als lebende Personen zurückkehren, sondern immer Geister bleiben und den Nebel füllen. Nur wenn Merlin will, werden die Toten geboren. Good bye, John…«
Mit den letzten Worten löste sich auch der Rest ihrer Gestalt auf.
Er war auf einmal weg. Gewaltige Kräfte zerrten an ihr und sorgten dafür, daß sie eins mit dieser Welt wurde.
Für einen Moment sahen wir noch einen fahnenartigen Schatten, dann gab es auch ihn nicht mehr.
Ich stand da, wie vom Donner gerührt, bis ich Kara erstickt röcheln hörte. Sie kippte schon gegen mich, klammerte sich fest und hätte mir fast den Gral aus der Hand gerissen.
Ich starrte in die Kugel. Verschwommen erkannte ich ein gütiges, weißes Gesicht, dessen Augen zu mir »sprachen«.
»Ja!« keuchte ich, hob den Gral an und bewegte mich ebenso, wie Melusine de Lacre es in meiner Wohnung getan hatte.
Ein nicht erklärbarer Sog packte Kara und mich. Er zerrte uns weg.
Die Welt verschwamm, wir tauchten wie winzige Partikel ein in eine Zwischendimension und wußten beide, daß wir in diesen Augenblicken die Nebelinsel Avalon verlassen hatten.
Wo aber lag unser neues Ziel! Würden wir irgendwo in den Dimensionen verschollen bleiben?
Ich hörte Karas Stimme sehr weit entfernt und hallend. »Die Steine, John, ich spüre sie…«
Kara behielt recht. Der nächste Atemzug hatte uns bereits an das Ziel gebracht.
Es waren die flaming stones !
***
Verwundert schauten wir uns um. Beide noch sehr benommen. Kara fühlte an der Stirn nach.
Der Tropfen Ewigkeit hatte sich aufgelöst, sie war wieder normal, doch sie hatte den richtigen Weg gewählt.
Ohne uns zuvor abgesprochen zu haben, umarmten wir uns. Es war eine Geste der Erleichterung, der unwahrscheinlich großen Freude, denn wer als Mensch schaffte es schon, die Nebelinsel Avalon zu verlassen? Und wer glaubte an sie?
»Wir werden Myxin Bescheid sagen, John. Wir müssen ihm berichten, daß alles geklappt hat.«
»Weißt du denn, wo er sein könnte?«
»Nein. Möglicherweise bei deinen Freunden, um ihnen einen Teil der Sorgen zu nehmen.«
»Das wäre gut.«
Der Eiserne Engel lief uns ebenfalls nicht über den Weg. Wir fanden ihn später im Blockhaus, wo er sich niedergelegt hatte und fest schlief.
»Der hat Nerven«, murmelte Kara.
»Ich gönne es ihm.«
Sie ging und holte frisches Quellwasser, denn das Gebiet hier durchschnitt ein klarer Bach. Mit zwei Gläsern kam sie zu mir und reichte mir eines entgegen.
Ich hob es an. »Auf unsere glückliche Heimkehr, Kara.«
»Ja, John, auf…«
Sie sprach nicht weiter, was mich stutzig werden ließ. »Hast du was, Mädchen?«
Die Schöne aus dem Totenreich zwinkerte mit den Augen, hob die Schultern und drehte sich herum.
Siedendheiß fiel es mir ein. Das Glas rutschte mir aus der Hand und zerbrach. Ich hatte beide Hände gehoben, betastete mein Gesicht – und fühlte es selbst.
Der Dunkle Gral hatte uns zurückgebracht, aber ich war ein alter Mann geblieben…
ENDE des Dreiteilers
[1] Siehe John Sinclair Nr. 621 »Die Vergessene von Avalon«
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