063 - Die Todesengel
Teeschale.
Gene Hallowell blickte, wie meistens, verständnislos drein.
Nur Betty Drawson zeigte sich interessiert. „Sprechen Sie weiter, Mr. Hunter!“
Schwester Mercy schien ihre Fassung zurückgewonnen zu haben. Sie er hob sich und griff nach der Teekanne.
„Ach, das ist doch kein Gesprächsthema für heute abend“, sagte sie in unbeschwertem Ton. „Wir sollten fröhlich und ausgelassen sein. Vielleicht kann uns Mr. Hallowell eine seiner herzerfrischenden Geschichten über seine Lieblinge erzählen. Er kann stundenlang über Blumen reden, und man wird nicht müde, ihm zuzuhören. Wie wäre es jetzt mit Tee? Wir haben damit extra auf Sie gewartet, Mr. Hunter. Trinken Sie aus, Mr. Grovers, damit ich Ihnen einschenken kann!“
„Ich bleibe lieber bei meiner Marke.“
„Nein. Keine Widerrede! Heute gibt es für niemanden eine Ausnahme.“
Dorian hatte Schwester Mercy die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Das war ihr nicht entgangen, und sie wurde immer nervöser.
„Sollten wir nicht warten, bis Mrs. Ashton kommt?“ gab Betty Drawson zu bedenken.
„Stellen Sie nur eine Tasse für sie bereit“, sagte Dorian. „Sie muß jeden Augenblick eintreffen. Inzwischen werde ich Ihnen die Geschichte von den beiden Schwestern erzählen, die beim Fürst der Finsternis in Ungnade fielen.“
„Welche Schwestern?“ erkundigte sich Grovers und warf Schwester Mercy einen Blick zu.
„Das ist die Pointe“, erwiderte Dorian. „Die Schwestern waren Hexen und lebten in Wien. Sie fühlten sich so mächtig, daß sie Asmodi, den Fürst der Finsternis, herausforderten. Doch als dieser ihnen auf die Schliche kam, rächte er sich fürchterlich an ihnen. Er verbannte sie und nahm ihnen alle ihre übernatürlichen Fähigkeiten – oder zumindest fast alle. Die Schwestern zogen sich in ein Sanatorium in London zurück und treiben dort seitdem ihr Unwesen. Ist es nicht so, Schwester Mercy?“ Schwester Mercy hatte die letzte Tasse mit zitternden Händen eingeschenkt. Jetzt entfiel ihr die Kanne.
Dorian ergriff die günstige Gelegenheit, um Deborah das verabredete Zeichen zu geben. Er hob die linke Hand und kratzte sich am rechten Ohrläppchen.
Kurz darauf ging die Eingangstür auf, und der schwarze Todesengel trat ein.
Als Schwester Mercy das sah, lief sie auf ihn zu und rief: „Nicht, Schwester Hercy! Es ist noch zu früh!“
In diesem Moment geschah etwas, das selbst Dorian überraschte. Auf der anderen Seite des Raumes erschien ein zweiter Todesengel, und er sagte mit Schwester Hercys Stimme: „Was soll denn das Spektakel, Mercy? Wir wollten den letzten Abend doch feierlich und friedlich begehen.“
Deborah Ashton nahm ihre Engelsmaske ab. Da brach Schwester Mercy schluchzend zusammen. Ihre Schwester Hercy, in der Maske des schwarzen Todesengels, eilte zu ihr und drückte sie fest an sich.
Dorian hatte seinen Platz verlassen und baute sich vor den beiden Schwestern auf. „Gestehen Sie, daß Sie beide Hexen aus Wien sind!“
Gene Hallowell kam zu ihm und herrschte ihn mit vor Schmerz und Wut verzerrtem Gesicht an: „Was haben Sie nur getan, Mr. Hunter? Was haben Sie den Schwestern der Gnade nur angetan?“ Schwester Mercy und Hercy begaben sich langsam und schwerfällig zum Tisch, wo sie sich auf ihre Sessel sinken ließen. Zwei alte, gebrechliche Frauen.
„Wie haben wir das verdient?“ klagte Schwester Mercy.
„Wir wollten nur Gutes tun“, beteuerte Schwester Hercy.
„Es hat niemand etwas anderes behauptet“, beteuerte Gene Hallowell und warf Dorian einen strafenden Blick zu. „Mr. Hunter hat es bestimmt nicht so gemeint. Er wird sich bei Ihnen entschuldigen, wie es sich für einen Gentleman gehört, nicht wahr, Mr. Hunter?“
„Wir haben nichts Böses getan“, wiederholte Schwester Mercy mit tränenerstickter Stimme. „Wir wollten nur helfen.“
„Indem Sie mordeten?“ fragte Dorian kalt.
„Mord?“ Schwester Hercy sah ihn aus großen Augen an. „Nennen Sie das Mord, Mr. Hunter, wenn man einen Menschen von seinen Leiden erlöst?“
„Leben ist leiden“, sagte Betty Drawson salbungsvoll.
„Wenn Sie Kitty Lorraine eine Wahl gelassen hätten, ich weiß, wofür sie sich entschieden hätte“, sagte Dorian. „Und Danny Dean sah seinen Tod auch nicht als Segen an. Ich habe es von meiner Zelle aus beobachtet, wie sehr er um sein Leben gekämpft hat. Das gleiche trifft auch auf Mr. Storm zu. Keiner der drei wollte den Tod.“
„Aber Mr. Storm hat es sich doch so sehr
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