0630 - Das Tengu-Phantom
Freie.
Winston Crawford saß mit bleichen Gesicht und zitternd im Fond des Rover, dessen Motor ich anließ, als sich Suko nur noch wenige Schritte entfernt befand.
Er hechtete auf den Beifahrersitz, verfolgt von einem halben Dutzend Schülern.
Ich startete, als Sukos Beine noch aus dem Fahrzeug hingen. Zum ersten Mal verloren die Schüler die Beherrschung, was wir ihren schrillen Schreien entnahmen.
Vor Wut über ihre Niederlage schleuderten sie die Stöcke auf den Rover zu. Einige trafen auch. Als sie aufprallten, hörte es sich an, als würden wir von schweren Regentropfen getroffen.
Suko veränderte sich zum Schlangenmensch. Er kroch auf den Sitz, als der Wagen bereits rollte.
»Gut, John, sehr gut.«
»Danke.«
Mein Freund lachte, zog die Tür zu und drehte sich um. An Crawford vorbei und durch die Heckscheibe schaute er zurück. Die Japaner standen wie erstarrt auf dem Fleck, dabei hätten sie nur in ihre Wagen zu steigen brauchen, um die Verfolgung aufzunehmen.
Sie taten es nicht.
Ausgerechnet mich fragte Suko nach dem Grund.
»Sorry, aber das weiß ich auch nicht. Vielleicht haben sie einen Befehl, im Schloss zu bleiben.«
»Wenn das stimmt, finde ich es direkt sympathisch von dem Tengu.« Suko atmete tief durch. Für einen Moment huschte ein Lächeln über sein schweißnasses Gesicht. »Das hätten wir hinter uns.«
»Und wie geht es weiter?«, meldete sich Crawford. »Oder glauben Sie, dass die andere Seite aufgegeben hat?«
»Zumindest Ihre Schüler.«
»Ja. Aber was ist mit dem Tengu?« Als er daran dachte, nahm seine Stimme einen schrillen Klang an.
»Den werden wir wohl noch sehen.«
»Wann?«
»Keine Ahnung.«
Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, weil ich mich auf den Weg konzentrieren musste, der bergab führte. Die Kurven kamen mir enger vor als auf der Hinfahrt. Zudem rollten wir schneller.
Nicht immer nahm ich die Kurven richtig. So manchmal streifte uns Buschwerk und kratzte über Scheiben und Karosserie.
»Hast du ein Ziel, John?«
»Ganz verschwinden möchte ich nicht. Oder haben wir eine Flucht so nötig?«
»Kaum.«
Im Rückraum giftete Crawford los. »Wollen Sie tatsächlich wieder zurück?«
Suko drehte den Kopf. »Es ist einfach nicht unsere Art, aufzugeben. Vergessen Sie nicht, dass wir auch den Mörder Ihrer Frau jagen.«
»Ja, ja.« Er nickte und rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. »Ich weiß ja nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Den Job kann ich mir an den Hut stecken.«
»Das glaube ich auch.«
»Wir werden bei dem Ehepaar warten und überlegen, wie es weitergehen soll«, schlug ich vor.
»Daran hatte ich auch gedacht.«
»Dann ist ja alles klar.«
Crawford fragte nicht nach dem Ort. Er schaute zurück und meldete keine Verfolger.
»Was denkst du, John, wo der Tengu stecken könnte?« Suko fragte es und knetete dabei die Stellen an seinem Körper, wo ihn die Stöcke getroffen hatten.
»Keine Ahnung. Das war ein Dimensionstor. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass er eine Reise in eine andere Dimension angetreten hat und dort erst mal abwartet.«
»Ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben?«
»Er kann jeden Augenblick zurück.«
»Stimmt auch wieder.«
Wir hatten mittlerweile die abfallende Strecke hinter uns gelassen. Wenn wir nach vorn schauten, blinkte der See, und wir sahen auch die Häuser an seinem Ufer. Nur Menschen nicht. Sie hielten sich hinter den Mauern versteckt. Zurückgekehrt waren die anderen auch nicht.
Zum Glück hielt sich der Tengu ebenfalls verborgen. Wir sahen weder ihn noch sein monströses Reittier. Dass er aufgegeben hatte, daran glaubte ich trotzdem nicht, denn ein Tengu war ein Wesen, das einfach nicht aufgab, selbst dann nicht, wenn sein Körper mit Blei vollgepumpt war oder man ihn in Stücke geschlagen hatte.
Einer allein war in der Lage, eine halbe Kompanie zu stoppen. Wie mächtig würden erst ein Dutzend dieser Tengus sein. Darauf lief es hinaus. Die Mitglieder des Clubs würden all ihre Kräfte einsetzen, um diese Tengus zu produzieren. Möglicherweise hatten sie sogar die Schüler dazu ausersehen.
Über dieses Thema redete ich mit Winston Crawford, der mir jedoch keine klare Antwort geben konnte. »Ich jedenfalls habe nichts davon bemerkt und sie auch nicht darauf vorbereitet.«
»Wie steht es mit den anderen Lehrern?« Im Innenspiegel sah ich, wie er die Schultern hob. »Begreifen Sie doch, ich bin Europäer und hatte mit den japanischen Lehrern keinen Kontakt. Ich kam mir sehr isoliert
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