067 - Der Redner
Der Redner
Allgemein nannte man Chefinspektor Oliver Rater durch Zusammenziehung seines Vor- und Familiennamens »Orator«. Das heißt auf deutsch »Redner«. Die Entstehung des Spitznamens ist ohne weiteres klar, aber weniger bekannt ist die Tatsache, daß der Chefinspektor eigentlich sehr wenig sprach und daß diese Bezeichnung daher eine ironische Bedeutung hatte. Aber sowohl seine Vorgesetzten als auch andere Leute wußten sehr gut, daß er dafür um so mehr dachte.
Er war hochgewachsen und breitschultrig und hatte regelmäßige, klare Züge, aber sein Gesicht blieb meist unbewegt. Wenn sich jemand mit ihm unterhielt, hatte er zweifellos zunächst den Eindruck, daß der Chefinspektor ihm nicht glaubte. Außerdem kam ihm am Ende des Gesprächs zum Bewußtsein, daß Mr. Rater kaum zehn Worte gesagt hatte. Mancher Verbrecher hatte ein so vollständiges Alibi, daß es lächerlich schien, ihn in Gewahrsam zu halten. Wenn er aber dem Redner vorgeführt wurde, brachte ihn oft genug das tödliche Schweigen dieses Mannes zur Verzweiflung, und er bekannte schließlich doch die Wahrheit.
Als Mr. Rater an einem Februarnachmittag in der Ecke eines großen Saales stand, in dem eine Hochzeitsfeier abgehalten wurde, hüllte er sich wieder wie gewöhnlich in tiefes Schweigen. Auf großen Tischen waren die Geschenke aufgebaut, die von den Gästen bewundert wurden.
Im allgemeinen lädt man einen Chefinspektor der Geheimpolizei nicht ein, um Hochzeitsgeschenke zu bewachen. Der Redner hatte sich aber freiwillig zu dieser Aufgabe angeboten, obwohl er selbst zu den Gästen gehörte. Der verstorbene Vater der Braut war eng mit ihm befreundet gewesen. Angela Marken erinnerte sich daran, als sie die Liste der einzuladenden Personen aufstellte.
»Aber Liebling«, sagte ihre Mutter ärgerlich, »du kannst doch unmöglich einen Polizeibeamten zu der Gesellschaft bitten. Das halte ich einfach für lächerlich.«
Angela seufzte und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.
»Ach, das ist doch nicht so schlimm«, erwiderte sie ein wenig gelangweilt. »Er bekleidet immerhin ein hohes öffentliches Amt.« Nach einem kleinen Zögern fragte sie: »Wie wäre es, wenn ich Donald Grey zur Feier bitten würde?«
Mrs. Marken zog die Augenbrauen hoch und sah ihre Tochter verwundert an.
»Das geht unter keinen Umständen, Angela. Ich verstehe wirklich nicht, wie du auf solche Einfälle kommst. Donald ist ja ein ganz netter junger Mann, und ich schätze ihn persönlich außerordentlich, aber du kannst doch nicht seinetwegen an deinem Hochzeitstage sentimental werden. Ich bitte dich, er verdient im Jahr dreihundert Pfund!«
»Schön, dann werde ich es nicht tun«, entgegnete Angela ruhig und adressierte den Briefumschlag an den Chefinspektor. »Vielleicht beaufsichtigt Mr. Rater die Wertsachen für uns. Das wäre sehr nett von ihm - und wir könnten dann schließlich auch ein paar Pfund sparen«, fügte sie ein wenig bitter hinzu.
Warum sie in so trüber Stimmung war, wußten nur wenige Gäste. Lord Eustace Lightley war reich und erbte wahrscheinlich in absehbarer Zeit einen Herzogstitel. Er hatte auch ein hübsches Gesicht und stand außerdem in dem Ruf, poetisch veranlagt zu sein. Vom Standpunkt der großen Menge aus war er jedenfalls eine glänzende Partie für die Tochter eines mittellosen Feldmarschalls.
Angela sah an ihrem Hochzeitstage sehr schön aus, obwohl ihr Gesicht kaum Farbe hatte. Sie trat vollkommen sicher und selbstbewußt auf, und als sie in ihrem Brautkleid im Saal erschien, gefiel sie dem Redner ausnehmend gut.
Später traf er auch den Bräutigam, aber dieser große, schlanke Herr mit den etwas hageren Zügen und dem langen Schädel war ihm aus irgendeinem Grunde sofort unsympathisch. Er hatte eine Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, die einem jungen Mädchen besser gestanden hätte als einem Mann von fünfunddreißig Jahren. Hätte der liebe Gott Mr. Rater die Aufgabe gestellt, Menschen zu formen, so wäre dieser Lord Eustace Lightley sicher nicht geschaffen worden!
Der Lord schien nervös und gereizt zu sein und zeigte sich wenig liebenswürdig. Die erste und einzige Unterhaltung zwischen ihm und dem Redner verlief deshalb auch nicht besonders befriedigend.
»Ach so, Sie sind ein Detektiv?« fragte Sir Eustace von oben herab.
Der Redner nickte, was für ihn schon gleichbedeutend mit einer langen Antwort war.
»Aber warum stehen Sie denn in der Ecke? Von hier aus können Sie doch gar nichts sehen! Es wäre viel besser, wenn Sie
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