072 - Das Horror Palais von Wien
daß sie nicht sehen konnte,
wer auf dem Bock saß. Die Haustür wurde in diesem Moment geöffnet. Evi und Paul
Graf von Cernay traten auf die Straße. Evi trug einen lose fallenden Mantel,
und der Graf hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Sandra schluckte und
mußte zweimal hinsehen, wie um sich zu vergewissern, daß wirklich stimmte, was
da geschah. Der junge Graf führte Evi zu seiner Kutsche! Die
Freundin machte einen heiteren und glücklichen Eindruck. Auf dem Weg zur
Kutsche, die rund zehn Meter vom Hauseingang entfernt stand, verhielt das Paar
mindestens dreimal im Schritt. Evi lachte viel und wirkte ausgelassen. Der Graf
öffnete die Tür, und Evi stieg als erste in die geschlossene Kutsche. Der Graf
folgte. Er setzte sich der hübschen Wienerin, die an diesem Abend ihren 20. Geburtstag
gefeiert hatte, gegenüber, nahm ihre Hände in die seinen und hauchte einen Kuß
darauf. »Ich freue mich«, sagte er ruhig, »daß Sie mir die Freude bereiten,
mich auf einer kleinen Rundfahrt durch die Innenstadt noch zu begleiten.«
»Es
ist eine Freude für mich, daß Sie mich dazu eingeladen haben, Paul.« Da zog er
sie an sich und küßte sie. Evi erwiderte seinen Kuß, und der schwarzhaarige
Mann rutschte neben sie. Mit einem Klopfzeichen gab er dem Kutscher das Signal
zum Abfahren. Die Kutsche ruckte an. Die großen Räder drehten sich, und das
Gefährt holperte über das Kopfsteinpflaster. Die Kutsche erreichte das Ende der
Straße und bog dann nach rechts in eine andere Gasse ab. Ebenfalls eine
Einbahnstraße. Da entschloß sich Sandra Kaintz, der Kutsche zu folgen. Sie fuhr
mit ihrem 2CV in die Straße, in der das Gefährt verschwunden war. Sandra
entdeckte es zwei Straßenkreuzungen weiter. Der Kutscher, den sie nicht sehen
konnte, hatte keine Möglichkeit, rechts ranzufahren und sie vorbeizulassen,
weil die Gasse zu eng war. Sandra Kaintz hielt sich absichtlich auch weit
hinter dem von zwei Pferden gezogenen Wagen, daß der Kutscher keinen Augenblick
das Gefühl bekam, sie wolle ihn überholen. Die Kutsche fuhr einmal um den
Gebäudekomplex und rollte dann Richtung Naglergasse. Die Fahrt endete in einer
Sackgasse. Am Ende der Straße lag ein großes Palais. Durch eine Toreinfahrt
ging es in einen alten, düsteren Innenhof. Die Kutsche tauchte unter. Sandra,
die sich in der Innenstadt auskannte, hatte rund fünfzig Meter vorher schon
ihren Wagen vor einem Haus zum Stehen gebracht, schaltete den
Motor aus, löschte die Lichter und starrte dem dunklen Gefährt nach, das mit
der Finsternis des Innenhofs verschmolz. Sachte öffnete sie dann die Autotür
und stieg aus. Auf leisen Sohlen, sich immer im Schatten der Hauswände haltend,
ging sie den Rest des Weges zu Fuß. Es war totenstill, und Sandra wunderte
sich, daß nicht mal das Scharren von Pferdehufen, das Rasseln des Geschirrs
oder das Schnauben der Tiere, denen sie sich so nahe befand, zu hören war. Das
war ungewöhnlich und unnatürlich! Ein Gefühl von Unsicherheit und Angst kam
plötzlich auf, das sie sich nicht erklären konnte. Sandra konnte diesem Gefühl
nichts befehlen. Es blieb permanent bestehen und ließ die Frau ängstlich Umschau
halten. Aber da war niemand, der sie beobachtete oder verfolgte…
Die
junge Frau tauchte in das Dunkel der Einfahrt, die die Kutsche passiert hatte.
Im dunklen Hof standen Gefährt und Kutsche. Sandra wußte genau, daß sich Paul
Graf von Cernay und Evi Strugatzki noch im Wagen befanden. Sie hatte keine Tür
klappen hören. Und dieses Geräusch wäre ihr in der allgemeinen, gespenstischen
Stille auf keinen Fall entgangen. Sandra Kaintz ging bis zum linken
Steinpfeiler, um von hier aus das Aussteigen des Paares zu beobachten. Ihr fiel
noch auf, daß der Kutschbock leer war und niemand darauf saß. Da preßte sich
auch schon eine Hand auf Sandras Mund, stellte ihr die Luft ab und verhinderte,
daß sie schreien konnte. Die Hand war kalt wie Eis…
●
Sie
trafen sich auf dem Flughafen. Der eine kam vom Flugfeld, der andere ging
Richtung Zollabfertigungsstelle. Auf dem Kennedy-Airport in New York ging es zu
wie in einem Bienenschwarm. »Hallo, Brüderchen!« sagte der eine, ein großer
blonder, braungebrannter Mann. »Egal wie dicht der Verkehr ist, unsere Wege
treffen sich immer wieder.«
»Und
das auch dann, wenn man nicht an dich denkt, Towarischtsch!« entfuhr es dem
anderen überrascht. Er überragte den Blonden um Haupteslänge und sah aus, als
wäre er einem Halleluja-Western entsprungen. Ein roter
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