072 - Das Horror Palais von Wien
Ihre
Mutter sah sie besorgt an. »Willst du wirklich fahren, Sandra?« fragte sie
traurig. »Ja, natürlich, Mama. Warum denn nicht?«
Die
hübsche Achtzehnjährige zuckte die Achseln und strich eine Strähne ihres langen
blonden Haares aus der Stirn.
»Weil
im Moment so viel passiert. Die Polizei hat ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß man sich nicht leichtfertig in Gefahr begeben und zu Hause bleiben soll,
wenn man es nicht unbedingt verlassen muß. Solange der Kerl nicht gefaßt ist,
rechnet sie mit weiteren Mordfällen.«
In
Wien ging die Angst um. Alle Zeitungen berichteten davon. Während der
vergangenen drei Wochen waren sechs junge Frauen spurlos verschwunden. Ermordet
oder entführt? Niemand wußte etwas über ihr Schicksal.
»Aber
ich muß weg. Simone und Constanze und die anderen warten auf mich… Ich bin
nicht leichtsinnig. Ich nehme keinen Anhalter mit und werde mich auch von
keinem Fremden ansprechen lassen.«
Die
Frau atmete tief durch und sah ihre Tochter von Kopf bis Fuß an. »Ich weiß
nicht«, sagte sie dann leise. »Aber ich hab so ein komisches Gefühl… eine
dunkle Vorahnung, als ob heute nacht etwas passieren würde.« Sandra winkte ab.
»Unsinn, Mama! Was soll mir schon passieren? Du liest zu viele Sensationsberichte.«
»Polizeiwarnungen
sind keine Sensationsberichte.«
»Ich
kann selbst auf mich aufpassen. Außerdem bin ich nicht allein. Wir sind eine
ganze Clique… fünfzehn oder zwanzig Mädchen und Jungen… da paßt einer auf den
anderen auf.«
»Wer
weiß«, sagte die Frau Mitte Vierzig, deren dunkles Haar von feinen dünnen
Silberstreifen durchzogen war. »Vielleicht befindet sich der Mörder… mitten
unter euch, und keiner weiß es.«
»Also
weißt du, Mama!« stieß Sandra entrüstet hervor. »Wie kannst du nur so etwas
sagen?«
»In
Tagen wie diesen gehen einem viele Gedanken durch den Kopf, Sandra. Solange man
nicht weiß, wer der Täter ist, kann es jeder sein. Der Nachbar, der freundliche
Mann an der Bushaltestelle… ein Freund, mit dem man hin und wieder zusammen
ist, und über den man doch nichts weiß…«
» Mama!«
»Ja,
ich weiß. Das hältst du für übertrieben. Aber all das gab es schon! Nicht
jeder, der ein Mörder ist, sieht auch aus wie einer.«
Sandra
Kaintz seufzte und versuchte ihrer Mutter klar zu machen, daß sie viel zu
schwarz sehe.
»In
meinem Bekannten und Freundeskreis gibt’s keinen Mörder. Da kannst du wirklich
beruhigt sein.« Die Achtzehnjährige griff nach der Handtasche, verabschiedete
sich von ihrer Mutter und ging zur Wohnungstür. Anni Kaintz vernahm, wie die
Tür ins Schloß fiel. Die Frau hörte den Lift rauschen und ging ans Fenster.
Draußen war es dunkel, der Himmel bewölkt und kein Stern zu sehen. In den
Fenstern der alten Häuser dieses Wiener Außenbezirks brannten die Lichter.
Unten
vor dem fünfstöckigen Mietshaus standen auf einem kleinen Parkplatz mehrere
Fahrzeuge. Der rote 2CV mit dem schwarzen Textildach gehörte Sandra. Das
Mädchen verließ das Haus, näherte sich dem Auto und stieg ein. Aus dem dritten
Stock beobachtete Anni Kaintz ihre einzige Tochter, und das Gefühl, sie zum
letzten Mal zu sehen, wurde beinahe unerträglich in ihr…
●
Zur
gleichen Zeit rollte ein dunkler Mercedes 250 auf dem Parkplatz vor dem
Flughafengebäude aus. Der Wagen wurde von einer Frau gesteuert. Sie war ein
wahrer Vamp, langbeinig, mit prallem Busen und pechschwarz schimmerndem Haar.
Sie war höchstens Mitte zwanzig. Ihre aufregenden Kurven konnten einen Mann
schwach werden lassen. So war es selbstverständlich, daß der Begleiter an der
Seite der Langbeinigen mehr als einmal während der Fahrt den Versuch gemacht
hatte, seine Hand auf ihre Knie zu legen. Der knapp sitzende Rock gab viel
davon preis. »Wir sind da«, sagte die Schwarzhaarige. »Jetzt bist du an der
Reihe.«
»Allein
wird’s wohl Schwierigkeiten geben«, antwortete der Mann. »Ohne dich wird’s
nicht funktionieren.«
Die
Frau in der roten, weit ausgeschnittenen Bluse und dem engen schwarzen Rock
lachte leise und schob mit sanfter Gewalt die Hand zurück, deren Finger sich
unter den Rocksaum geschoben hatten. »Die Spielchen kommen später. Jetzt
erledigen wir erst unsere Arbeit, einverstanden? Davon haben wir doch beide
etwas.« Sie zog die Beine an und stand schwungvoll auf.
Das
Paar betrat die große Abfertigungshalle. Ziel war die Zollstelle, die um diese
Zeit nicht besonders besucht war. Nur zwei Beamte taten Dienst. Der eine,
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