072 - Das Horror Palais von Wien
gegenseitig an. Sandra Kaintz schüttelte den Kopf. »Unsinn«,
sagte sie tonlos. »Ich habe deutlich gesehen, wie sie zusammengebrochen ist.«
Ängstlich wichen die Mädchen von der Toten zurück. »Bleibt hier«, sagte
Constanze. »Ich ruf von der nächsten Telefonzelle aus die Polizei und einen
Arzt an.«
»Der
kann wohl nichts mehr machen«, murmelte Simone und trat zwei Schritte zurück.
Simone Hardske und Sandra Kaintz blieben an der Toreinfahrt zurück, während
Constanze über den Platz nach vorn lief. Auf der anderen Seite stand an der
Straßenecke eine Telefonzelle, von der aus sie die Polizei anrief und den
Totenfund meldete. Der den Bericht entgegennehmende Beamte bat sie, an Ort und
Stelle zu bleiben und nichts anzurühren. Seine Kollegen würden sich sofort auf
den Weg machen. Eine Viertelstunde später trafen zwei Autos ein. Ein Polizei-
und ein Zivilfahrzeug. Zwei Uniformierte und zwei Beamte in Zivil kamen in die
Einfahrt, wo die Freundinnen warteten. »Kommissar Sachtler«, stellte sich der
Mann mit Hut vor. »Wer hat die Frau gefunden?« fragte er, während er die Taschenlampe
aufleuchten ließ und die Reglose im hellen Schein betrachtete.
Sandra
schilderte, wie sie es bemerkt hatte. Sachtler blickte sie an. »Sie sind ganz
sicher, noch gesehen zu haben, daß die Frau sich bewegte?« fragte er erstaunt.
»Ja…«
Sachtler
hatte schon viele Leichen gesehen. Diese Frau war aber seit mindestens vierundzwanzig
Stunden, wenn nicht schon länger, tot! Er erwähnte das den Mädchen gegenüber
nicht. Sandra Kaintz machte einen vernünftigen Eindruck und schien genau zu
wissen, was sie sagte. Sie bestand auf ihrer Wahrnehmung und nahm sie mit
keinem Wort zurück. Der Begleiter des Kommissars machte sich eifrig Notizen und
bat auch um Namen und Anschriften der Mädchen, damit man sich später, falls
noch Rückfragen notwendig wären, mit ihnen in Verbindung setzen konnte. Die
drei Freundinnen konnten gehen, während die routinemäßigen Untersuchungen am
Fundort der Leiche ihren Fortgang nahmen. Alle äußeren Anzeichen wiesen darauf
hin, daß die Tote hierher geschafft worden war. Sie war bereits tot gewesen,
als sie abgelegt wurde. Aber in dieses Bild paßten die Aussagen der drei
Zeuginnen nicht. Sie hatten niemand sonst gesehen. Es war ihnen nichts
Verdächtiges aufgefallen. Keine Schritte, keine andere Person. War die Frau
ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben? Und wer war sie? Sie
trug keine Tasche und damit keine Ausweispapiere bei sich. Sachtler kraulte
sich im Nacken und nickte seinem Assistenten zu.
»Was
haben Sie für ein Gefühl, Denner?« fragte er seinen Assistenten. »Nach bisher
fünf Vermißtenanzeigen dürfte das die sechste sein, Kommissar. Sie
unterscheidet sich womöglich in erster Linie dadurch, daß wir zum erstenmal
eine Leiche haben, allerdings die einer alten Frau. Bei bisherigen Vermißten
handelte es sich ausschließlich um junge Frauen… Sie sollten noch mindestens
eine Planstelle mehr einrichten lassen, Kommissar… Ich habe das Gefühl, mit dem
jetzigen Personalbestand schaffen wir das nicht.«
Die
Männer warteten auf das Eintreffen des Leichenwagens. Über Funk war er
inzwischen angefordert worden. Die Tote, an der äußerlich keine Merkmale zu
entdecken waren, die auf einen gewaltsamen Tod schließen ließen, ging Kommissar
Sachtler nicht aus dem Kopf. Als sich der Deckel des Zinksargs über der
Unbekannten schloß, atmete er tief durch. »Ich hab ein komisches Gefühl,
Denner«, gestand er seinem Assistenten. »Ist Ihnen denn nichts aufgefallen?«
Denner
war einen Kopf kleiner als Sachtler und sah aus wie ein biederer Geschäftsmann.
»Im Moment fällt mir jedenfalls nichts ein, Kommissar.«
»Das
Kleid, Denner… ich muß dauernd an das Kleid denken, das die Tote trug. Es sah
so aus, als wäre sie gerade von einem Ball gekommen, der im vorigen Jahrhundert
stattgefunden hat…«
●
Sandra
Kaintz begleitete ihre Freundinnen noch auf der Hälfte des Weges. Dann
verabschiedete sie sich und kehrte um. Sie passierte noch mal die Stelle, wo
sie die Tote gefunden hatte und machte einen großen Bogen drum herum. Die
Polizei hielt sich noch immer dort auf.
Sandra
kehrte zum Graben zurück. Von dem Platz aus, wo sie ihren Wagen abgestellt
hatte, konnte sie das Haus sehen, in dem Evi Strugatzki wohnte. Nicht weit vom
Eingang entfernt stand eine schwarze Kutsche mit zwei vorgespannten Rappen. Die
Kutsche stand mit dem Heck in Sandras Richtung, so
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