074 - Die mordenden Leichen
Doktor. Sie kommen wohl besser herein.“
Sie gingen in den Salon. Im Kamin flackerte ein behagliches Feuer.
„Nun, Dr. Fenner? Was ist so wichtig, daß Sie mich deshalb zu so später Stunde noch aufsuchen?“
Fenner kam ohne lange Vorrede sofort zur Sache. „Man sagte mir, Sie könnten mir alle meine Fragen über jene Familie beantworten, die einst in dem Herrensitz oben auf dem Hügel lebte.“
„Die Familie de Ruys!“ Der alte Mann blieb plötzlich stehen und blickte Fenner an, als sähe er ihn zum erstenmal.
Die beiden Männer nahmen vor dem Kamin Platz.
„Ich weiß, was sich die Dorfbewohner erzählen, besonders nun nach dem unglückseligen Tod von Pendrake. Aber mich interessiert Altweibergeschwätz nicht, Paul. Ich möchte Tatsachen hören, ich will der Wahrheit auf den Grund gehen. Ich weiß selber, daß hier etwas Ungewöhnliches in der Luft liegt, aber ich möchte wissen, was es ist, und ich glaube, daß Sie der einzige sind, der mir wirklich helfen kann.“
Chambers lächelte. „Da gäbe es sehr viel zu berichten, Doktor, aber glauben Sie nicht, daß es sich hier um Dinge dreht, die Sie eigentlich wenig betreffen?“
„Das ist durchaus möglich, Paul, aber wenn irgend etwas an diesem Geschwätz über entfesselte, dunkle Mächte dran ist, dann möchte ich darüber Bescheid wissen. Als Arzt betrachte ich es als meine Pflicht, über das Wohl der mir Anvertrauten zu wachen, auch wenn es das seelische Wohl ist.“
„Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Alles, was ich im Laufe der Zeit entdeckt habe. Aber Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie sich da in eine Sache einlassen, die Ihnen höchstwahrscheinlich bald über den Kopf wachsen wird.“
„Ich muß dieses Risiko eingehen. Je genauer ich die Dinge analysieren kann, desto weniger bin ich dem Aberglauben ausgesetzt.“
Chambers erhob sich langsam, nahm die Pfeife vom Kaminsims und füllte sie bedächtig aus einem kleinen Lederbeutel.
„Ich bin sicher, Doktor, daß manches, was Sie nun hören werden, Ihnen wenig genehm sein wird, und es würde mich nicht wundern, wenn Sie nur die Hälfte davon akzeptieren. Aber so erging es mir anfangs auch, als ich mit den Nachforschungen über die Familie de Ruys für mein Buch begann.
Vor mehr als dreihundert Jahren bestand die Familie aus fünf Mitgliedern. Henry de Ruys, seine Frau Emily, und deren drei Kinder Martyn, James und Margaret. Einige der frühen Berichte sprachen noch von einem vierten Sproß, Edmund, aber seine Spuren verloren sich, so daß man annahm, er sei bereits in jungen Jahren gestorben.“
„Und alle fünf liegen oben auf dem Hügel in der Familiengruft begraben?“
„Richtig.“ Chambers trat an die große Bücherwand und entnahm ihr zwei dicke, ledergebundene Bände, die schon sehr alt sein mußten.
„Ich kenne eine Menge Leute, die ein Vermögen für diese beiden alten Bände zahlen würden, Doktor. Die Original-Familienchronik der de Ruys, handgeschrieben 1658.“
Er legte den zweiten Band auf den Tisch und zog die Pendelleuchte herunter, bis ihr Schein voll auf die aufgeschlagene Seite fiel, die mit feinen, spinnwebartigen Schriftzügen bedeckt war. Fenner beugte sich vor, um die Worte entziffern zu können, doch trotz des hellen Lichts war dies unmöglich. Sicherlich war die Schrift einwandfrei lesbar, doch die Worte waren in einer fremden, ihm unbekannten Sprache geschrieben.
Chambers zog seinen Stuhl näher an den Tisch, legte seine Pfeife behutsam in einen silbernen Aschenbecher, und blätterte dann vorsichtig Seite um Seite durch, bis er gefunden hatte, was er suchte.
„Hier. Die letzten der Familie de Ruys. Die große Katastrophe, die sie auslöschte, aber …“ Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein und fuhr dann mit heiserem Flüstern fort: „… Es war nicht so, wie man glauben sollte.“
Fenner zündete sich eine Zigarette an und beobachtete Chambers gespannt. „Fahren Sie fort, bitte. Diese Sache beginnt, mich zu interessieren.“
„Hoffentlich denken Sie immer noch so, wenn ich die Geschichte zu Ende erzählt habe“, antwortete Chambers. „Nun kommt nämlich der Teil der Geschichte, der am schwersten zu glauben ist. Henry de Ruys stammte aus einer langen, direkten Linie von Rittern und Landsknechten, die anscheinend mit Wilhelm dem Eroberer im Jahre 1066 nach England kamen. Oben auf dem Hügel wurde im zwölften Jahrhundert eine Burg erbaut, die in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts bis auf die Grundmauern
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