0760 - Die Geisterfee
Der Junge trug helle Sommerjeans und ein buntes Hemd, das ihm auf der rechten Seite aus der Hose gerutscht war. Ein Bein hatte er leicht angewinkelt.
Den Anblick konnte ich kaum ertragen. Es war schlimmer, als wenn ich zahlreichen Monstern gegenübergestanden hätte, die doch oft genug unwirklich für mich waren, obwohl sie existierten. Aber hier hatte das echte Leben grausam zugeschlagen und es präsentierte sich mit einem Zynismus, den ich nicht begreifen konnte.
Es kam mir vor, als wären der junge und ich allein im Flur in der obersten Etage des Hauses, aber das stimmte nicht, es waren noch genügend Polizisten da und auch mein Freund Bill Conolly, der Reporter, der mich alarmiert hatte.
Der Mord an einem Kind, so grausam und unbegreiflich diese Tat auch war, fiel nicht in mein Fach.
Hier gab es keine Hinweise darauf, daß finstere Mächte ihre Hände mit im Spiel hatten, aber wenn die Kollegen meine Unterstützung wollten, dann würde ich mithelfen, den Killer zu finden. Und auch mein Freund und Kollege Suko würde dabeisein, das stand fest.
Wie lange ich vor der Leiche gestanden hatte, konnte ich nicht sagen. Irgendwann verschwand das taube Gefühl aus meinem Kopf, das die Fassungslosigkeit hinterlassen hatte. Ich merkte wieder, daß ich lebte und die Nebelwolke aus der unmittelbaren Umgebung des toten Jungen allmählich verschwand.
Es kristallisierten sich die Gesichter der Männer hervor, die allesamt - Bill Conolly ausgenommen zur Mordkommission gehörten. Und diese wiederum wurde von einem Mann geleitet, den ich gut kannte und ebenfalls zu meinen Freunden zählte.
Es war Chefinspektor Tanner.
Er hatte mir die Zeit gelassen, die schreckliche Szene aufzunehmen, und er merkte auch, daß ich wieder zu mir kam. Er löste sich von seinem Platz. Langsam trat er mir entgegen, stellte sich zwischen mich und das tote Kind, als wollte er mir den Anblick zunächst einmal ersparen.
Wir schauten uns an.
Ich kannte Tanner als einen kraftvollen, trotz seines Jobs lebensbejahenden Mann, der wirklich mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand und sich durch nichts so leicht erschüttern ließ.
Er war von Natur aus etwas poltrig, er regte sich leicht auf, das aber war auch oft gekünstelt.
In diesem Fall hier schwieg er.
Er konnte nichts sagen, sein Blick sprach Bände, und schließlich hob er die Schultern. Eine knappe Geste, in der all die Hilflosigkeit lag, die er empfand.
Ich merkte den Druck hinter meinen Augen, preßte die Lippen zusammen und schluckte mehr als einmal. Es war keiner da, der einen Kommentar abgegeben hätte. Tanners Leute, die allerhand Schreckliches gesehen hatten, waren ebenfalls fassungslos.
Ein totes Kind im Hausflur eines Wohnhauses. Da mußte man sich fragen warum und wieso. Denn einen Grund für diesen Mord konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Tanner, der auch bei diesem Wetter seinen alten Filz trug, schob den Hut noch weiter zurück und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich empfand sie schwer wie Blei, und dann sagte er etwas, wobei ich ihm voll und ganz zustimmte. »Es ist auch für mich unbegreiflich, John. Ich kann mir nicht vorstellen, warum das geschehen ist. Und ich wüßte auch nicht, wer das getan haben könnte.«
»Ein Mensch, der nicht mehr Herr seiner Sinne war. Ein psychisch Kranker. Jemand, der…«
Tanner schüttelte den Kopf. »Nein, John, da liegst du falsch. Sogar völlig falsch. Schau dir die Leiche an. Schau dir das Einschußloch an. Genau zwischen den Augen. Weißt du, wer derartige Spuren hinterläßt? Kannst du dir das denken?«
»Ein Profi!«
»Richtig, John, ein Profi!«
Ich runzelte die Stirn. Da mochte der Chiefinspektor recht haben. Ich allerdings fragte mich, was der Junge getan haben konnte, um sterben zu müssen.
»Er heißt übrigens Sven Abels.«
Ich nickte nur. Der Name sagte mir nichts, denn ihn hatte ich noch nie zuvor gehört. »Wissen die Eltern Bescheid?«
»Ja, zwei Männer sind bei ihnen. Ein Psychologe und ein Arzt. Es ist alles so sinnlos, John, für uns sinnlos, und trotzdem ist der Junge tot. Wieso?«
Ich wußte es auch nicht und fragte, wer ihn gefunden hatte.
»Eine Putzfrau, John.« Tanner deutete auf die Stahltür in einer Nische. »Dahinter hat sie ihr Lager. Besen, Eimer, Putzmittel, einen Staubsauger und so weiter. Sie kam hoch, um sich mit Nachschub einzudecken. Da fand sie den Jungen.« Tanner drehte sich und deutete auf ein offenstehendes Fenster. »Das war nicht geschlossen. Von da kannst
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