08 - Der zeitlose Raum
war.
»Das ist aber auch ein Labyrinth hier unten«, brummte er, als er einmal mehr in eine Sackgasse lief und kehrtmachen musste. Er war zu A.I.M.-Zeiten nicht oft in dieser Unterwelt gewesen und sich dann auch nicht im Licht einer Laterne orientieren müssen. Nicht alle Bereiche dieses unterirdischen Labyrinths waren abgesichert. Er wusste, dass es Gänge gab, die nicht nur ins Nichts führten, sondern auch an Kanten abbrachen, hinter denen es meterweit in die Tiefe ging. Vor über dreihundert Jahren hatte es keine Bauvorschriften gegeben, die solchen Gefahren einen Riegel vorschoben.
»Diese Treppe hoch!«, kommandierte er, »dann sind wir am Ziel.«
***
Yucatán
Das ist das Ende!, durchzuckte es Abby, einhergehend mit dem Ruck, der ihr die Schlaufe unter den Armen so stramm zog, dass sie schmerzhaft in ihre Achseln schnitt.
Es war das Ende – das Ende des Seils, an dem sie sich fünfundzwanzig Meter weit von der Strömung des Flusses hatte mittragen lassen, eingeschlossen in eisige Kälte und nur begleitet vom Licht der wasserdichten Taschenlampe.
Atemnot machte sich längst wieder bemerkbar. Sie durfte keine Sekunde vergeuden.
Zurück!, befahl sie sich. Und zögerte doch. Oder nicht?
Einer Eingebung folgend, löschte sie die Lampe. War da nicht … nein, kein Licht, natürlich nicht, aber war es dort nicht ein ganz klein wenig heller als hinter ihr?
Ihre Hand schloss sich um das straff gespannte Seil. Wo es hinführte, gab es keinen Weg nach oben. Dort warteten nur Xavier Soto und die Aussicht darauf, an seiner Seite auszuharren, bis sie irgendwann und auch nur vielleicht und zufällig jemand fand.
Verdursten würden sie nicht. Schon die Maya hatten sich aus diesen unterirdischen Flüssen mit Trinkwasser versorgt. Aber wie stand es mit Verhungern? Gab es Fische hier unten?
Abby zuckte unter einer Berührung zusammen. War das ein Fisch gewesen?
Sie schaltete die Taschenlampe wieder ein, aber natürlich war, was immer sie berührt hatte, längst von der Strömung weiter getragen worden.
Ohne noch mehr Zeit zu vergeuden, griff Abby nach Sotos Jagdmesser, setzte die scharfe Klinge an das gespannte Seil – und schnitt es durch!
Völlig losgelöst, wurde Abby zum Spielball der Strömung.
Sie fand jedoch nicht mehr heraus, ob es vor ihr wirklich ein klein wenig heller gewesen war als hinter ihr – weil sie von einer Schwärze verschlungen wurde, die nichts mit fehlender Helligkeit zu tun hatte, sondern damit, dass ihr schlicht die Luft ausging und ihr Bewusstsein erlosch.
***
Lyon
Audric Guignard hatte Spencer McDevonshire sein eigenes Büro im Generalsekretariat von Interpol überlassen, ein hässlicher Klotz aus Spiegelglas und Beton. Er hatte dem Engländer das bisher vorhandene Material über den Fall ausgedruckt zur Verfügung gestellt. Guignard wusste, dass McDevonshire sich nur ungern selbst an einen Rechner setzte.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich hier bleibe?«, fragte Guignard.
»Aber nein«, sagte McDevonshire.
Der Kollege zog sich einen der Besucherstühle heran und setzte sich neben McDevonshire an den kleinen Tisch, auf dem dieser die Unterlagen durchsah.
»Es geht also gar nicht nur um Víctor Javier Tirado, wie ich sehe«, sagte McDevonshire.
»Nein. Ericson hat zuvor noch drei andere Männer aufgesucht, die man später tot auffand. Und auch mit der Ermordung eines anderen Archäologen, eines gewissen Seymor Branson, scheint er etwas zu tun zu haben. Jedenfalls war Ericson zum Zeitpunkt von Bransons Tod in Yucatán, und man hat sie zusammen gesehen.«
»Ericson …«, wiederholte McDevonshire murmelnd und las, was über den Mann bekannt war. Amerikaner, Archäologe, Gastdozent an etlichen verschiedenen Universitäten, darunter Princeton und Harvard. Nicht unbeeindruckend. McDevonshire fiel aber auch auf, dass es über einige Jahre hinweg Zeiträume in der Vita von Thomas Ericson gab, für die keinerlei Tätigkeitsnachweise existierten. Merkwürdig …
Und merkwürdig fand er auch das Alter des Mannes.
»Der Mann soll vierundfünfzig sein?« Die buschigen Augenbrauen hochgezogen, betrachtete McDevonshire das Foto, das ihm vorlag, ein Ausschnitt aus der Aufzeichnung der Überwachungskamera in Tirados Penthouse. Das Bild war etwas grobkörnig, trotzdem wirkte der Mann darauf keinen Tag älter als fünfunddreißig, allerhöchstens vierzig, und selbst dann hätte er sich gut gehalten.
»Ich möchte den Mann schon deshalb finden, weil ich ihn fragen will, was er frühstückt
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